"Wir haben dem russischen Bären die Zähne ausgeschlagen"

Saarbrücken. 1980 war alles andere als ein ruhiges Jahr: Der erste Golfkrieg zwischen Iran und Irak begann, die Sowjets starteten eine Groß-Offensive in Afghanistan, viele westliche Nationen wie auch Deutschland boykottierten die Olympischen Spiele in Moskau - und dann blickte die Welt nach Danzig: Seit Mitte August streikten dort die Werft-Arbeiter unter Führung von Lech Walesa

Saarbrücken. 1980 war alles andere als ein ruhiges Jahr: Der erste Golfkrieg zwischen Iran und Irak begann, die Sowjets starteten eine Groß-Offensive in Afghanistan, viele westliche Nationen wie auch Deutschland boykottierten die Olympischen Spiele in Moskau - und dann blickte die Welt nach Danzig: Seit Mitte August streikten dort die Werft-Arbeiter unter Führung von Lech Walesa. Die Bewegung weitete sich auf ganz Polen aus, mit der Forderung nach mehr Freiheit und besseren Lebensbedingungen. Am 31. August schließlich war das kommunistische Regime so mürbe, dass es den 21 Punkte umfassenden Forderungskatalog akzeptierte."Ende der Streiks in Polen" titelte darauf die Saarbrücker Zeitung am 1. September auf Seite 1, "Regierung gibt Forderungen der Arbeiter nach - Westen erleichtert, Moskau schweigt". Und weiter hieß es: "Streikführer Walesa und der stellvertretende Ministerpräsident Jagielski setzten ihre Unterschriften unter das 21 Punkte umfassende Dokument, das den Arbeitern die Gründung autonomer Gewerkschaften zugesteht. Walesa sagte: Ich erkläre den Streik für beendet." Das war der Startschuss für die Gewerkschaft Solidarnosc, die in ganz Polen zahlreiche Anhänger fand. Und es war der Anfang vom Ende des Kommunismus in Osteuropa, was zehn Jahre später die Unterzeichnung des deutschen Einigungsvertrages erlaubte. Walesa sagte später rückblickend: "Wir haben dem russischen Bären die Zähne ausgeschlagen."

Der Kommentator vom Tage zeigte sich einerseits skeptisch, ahnte aber auch gleichzeitig, was für eine Umwälzung dem Ostblock bevorstand: "Die meisten halten es für unmöglich, daß sich irgendetwas wesentlich im Alltagsleben ändern kann, solange Kommunisten die Macht ausüben. Aber diesmal, zum ersten Mal seit 1945, ist das möglicherweise ein Irrtum. Schon sehr bald wird man mehr darüber wissen."

Auch am darauffolgenden Tag waren die Ereignisse in Polen Kommentar-Thema. Die SZ blieb in der Bewertung vorsichtig, wurde aber deutlicher: "Vor diesem Hintergrund betrachtet, muß die Vereinbarung von Danzig in einem anderen Licht erscheinen. Die Erfüllung der Forderungen nach Bildung unabhängiger Gewerkschaften, nach Streikrecht und nach Einschränkung der Zensur träfe nicht nur den Nerv der kommunistischen Ideologie, sie wäre vielmehr systemverändernd, systemüberwindend, sie wäre letztlich eine Revolution."

Das schwante wohl auch dem Großen Bruder in Moskau. Die sowjetische Presse erwähnte die Einigung in Polen mit keiner Silbe, sie schwieg sie einfach tot - in der Befürchtung, die Demokratie-Bewegung könnte nach Osten überschwappen. Doch der Siegeszug der Solidarnosc - und damit der Demokratiebewegung - war nicht mehr aufzuhalten. Der Grundstein für den Wandel der kommunistischen Systeme im Osten war gelegt, davon sollten auch die Deutschen neun Jahre später profitieren, als die Berliner Mauer fiel. Und genau zehn Jahre nach dem Danziger Protest mündete die Demokratiebewegung in die Unterzeichnung des deutsch-deutschen Einigungsvertrages.

Doch noch am Vorabend der Unterzeichnung gab es Unstimmigkeiten zwischen dem westdeutschen Bundestag und der Volkskammer der DDR. "Stasi-Akten gefährden den Einigungsvertrag" meldete die SZ am 31. August 1990. "Volkskammer gegen Übernahme durch das Bundesarchiv" lautete die dazugehörige Unterzeile. Die Volksvertreter der DDR waren nicht damit einverstanden, dass die Stasi-Unterlagen vom Bundesarchiv in Koblenz verwaltet werden und die fünf neuen, noch zu gründenden Bundesländer auf ehemaligem DDR-Gebiet keinen Zugriff mehr haben sollten. Im Osten fürchtete man, so die SZ, "dass dann der Bundesnachrichtendienst Zugang zu den brisanten Dokumenten bekäme". Als Kompromiss wurde dann die Gauck-Behörde ins Leben gerufen.

Der Leitartikler vom Tage bremste die Erwartungen an den Einigungsvertrag: "Das Urteil über dieses Werk ist erst zu fällen, wenn seine Mängel zutage getreten sind, und mehr als 1000 Seiten enthalten ein gewaltiges Fehlerpotenzial. Eines steht schon fest: Ein Kabinettstück politischer Verhandlungskunst und ein Ruhmesblatt des kooperativen Föderalismus war das Zustandekommen dieses Vertrages nicht."

In der Wochenend-Ausgabe vom 1./2. September teilte die Saarbrücker Zeitung ihren Lesern auf Seite 1 dann mit: "In einem Kraftakt hatten die Regierungen und Parteien der beiden deutschen Staaten nach langem Tauziehen in der vorangegangenen Nacht die letzten strittigen Punkte, vor allem die Abtreibungsproblematik, geklärt." In der Abtreibungsfrage einigte man sich auf folgende Regelung: Bis zum 31.12.1992 sollte im Westen weiterhin das Indikationsmodell gelten, im Osten die bisherige Zwölf-Wochen-Fristenregelung. Der Weg für die Vollendung der deutschen Einheit war frei.

Was sonst noch geschah in der Woche vom 29. August bis zum 4. September:

29. August 1962: Die CIA entdeckt erstmals Raketenabschuss-Basen auf Kuba.

• 30. August 1945: Das Saarland wird von Deutschland durch eine Zoll- und Währungsunion mit Frankreich abgetrennt.

• 31. August 1997: Lady Diana verunglückt bei einem Autounfall in Paris tödlich.

• 1. September 1939: Der Zweite Weltkrieg beginnt mit dem Beschuss der Westerplatte bei Danzig durch das Schiff "Schleswig-Holstein" und dem Einmarsch deutscher Truppen in Polen.

saarbruecker-zeitung.de/

 Arbeiter der Danziger Werft tragen Streikführer Lech Walesa auf ihren Schultern. Foto: dpa

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