"Wir bleiben auf dem Teppich, auch wenn der gerade fliegt"

Berlin. Seit Monaten reiten die Grünen auf einer erstaunlichen Popularitäts-Welle. Doch auf ihrem heute Abend beginnenden Bundesparteitag in Freiburg soll es betont sachlich und nüchtern zugehen. "Auftrag Grün" lautet das Motto der Zusammenkunft. "Nur nicht abheben", steht unausgesprochen dahinter

Berlin. Seit Monaten reiten die Grünen auf einer erstaunlichen Popularitäts-Welle. Doch auf ihrem heute Abend beginnenden Bundesparteitag in Freiburg soll es betont sachlich und nüchtern zugehen. "Auftrag Grün" lautet das Motto der Zusammenkunft. "Nur nicht abheben", steht unausgesprochen dahinter. In der Berliner Parteizentrale ist man sich sehr wohl bewusst, dass der Höhenflug in den Umfragen auch mit gewissen Problemen behaftet ist. Manche befürchten schon böse Schlagzeilen nach dem Strickmuster, die Grünen berauschen sich an sich selbst. Außerdem ist die politische Konkurrenz hellhörig geworden und teilt kräftig aus. Union und FDP versuchen, die Ökos als "Dagegen-Partei" zu stigmatisieren. Und die SPD, ebenfalls voller Neid auf den grünen Aufschwung, spricht von einer "Wohlfühlpartei".

Mit den Großen im politischen Geschäft auf Augenhöhe zu stehen, ist für die Grünen zweifellos eine neue Erfahrung. Parteichefin Claudia Roth (Foto: dapd) findet das "richtig spannend", weiß aber auch, dass die Gegner nun genauer hinschauen. Deshalb müssten die Grünen ihre politische Alltagstauglichkeit beweisen und "nicht wie andere das Blaue vom Himmel versprechen".

Das ist allerdings schon im Hinblick auf den Parteitag leichter gesagt als getan. So hat zum Beispiel der Kreisverband Göttingen einen Antrag eingebracht, der die Rente mit 67 rundweg ablehnt und den Bürgern bereits nach 30 Versicherungsjahren eine "Garantierente" in Aussicht stellt, die höher als Hartz IV sein soll. Ein eilends abgefasster "Dringlichkeitsantrag" namhafter grüner Bundestagsabgeordneter soll eine Mehrheit für diese Position verhindern. Kontroversen werden auch beim Tagesordnungspunkt "Gesundheitspolitik" erwartet. Dabei will die Partei nicht nur die einst von Rot-Grün eingeführte Praxisgebühr wieder abschaffen. Zur Abstimmung steht auch eine Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze von derzeit 3750 Euro auf 4162 Euro oder sogar auf 5500 Euro, was der Bemessungsgrenze bei der Rentenversicherung West entspricht. Entsprechend tiefer müssten Gutverdiener in die Tasche greifen. Partei-Linke sehen darin eine Nagelprobe, "ob die Grünen mutig an Verteilungsfragen herangehen oder hohe Einkommen schonen wollen". Weitere Debatten sind zur Energie-, Kommunal- und Nahostpolitik geplant.

Im Mittelpunkt des Treffens steht allerdings die Neuwahl des neunköpfigen Vorstands und des Parteirates. Dafür sind allein sechs Stunden vorgesehen. Die Bestätigung von Claudia Roth und ihrem Co-Vorsitzenden Cem Özdemir (Foto: dpa) ist eher Formsache. Beide haben keine Gegenkandidaten. Wer wollte derzeit auch an ihnen rütteln?

Selbst über Bundesgeschäftsführerin Steffi Lemke, die früher zuweilen für innerparteiliche Kritik sorgte, fiel im Vorfeld des Parteitages kein böses Wort. Lemke kann genauso mit ihrer Wiederwahl rechnen wie die übrigen Vorstandsmitglieder. Lediglich in zwei Fällen werden Gegenkandidaturen erwartet.

Tatsächlich wohlfühlen dürften sich die 800 Delegierten schließlich bei der Diskussion zum Bahnprojekt Stuttgart 21. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht hier Winfried Kretschmann, Fraktionschef im baden-württembergischen Landtag und Spitzenkandidat für die Landtagswahl am 27. März 2011. Von dem 62-jährigen Super-Realo stammt der schöne Satz: "Wir bleiben auf dem Teppich, auch wenn der gerade fliegt." Kretschmann hat gute Chancen, erster grüner Ministerpräsident in Deutschland zu werden.

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