WILLKOMMEN IM JAHRHUNDERT DER DEUTSCHEN

Phoenix · Ungeachtet aller Streitigkeiten in der Spionage-Affäre oder bei den geplanten Sanktionen gegen Russland loben US-Medien Deutschland und seine Erfolge. Und damit ist nicht nur der vierte Weltmeistertitel gemeint.

Rose Jacobs, die Autorin des US-amerikanischen Magazins "Newsweek", muss sich irgendwann in diesem Jahr ein Radl genommen haben und vom Münchner Zentrum die Isar entlang bis zum Trainingsgelände des FC Bayern gestrampelt sein. Dort muss sie dann die strammen Waden jener Spieler bewundert haben, die maßgeblich zum Gewinn des Weltmeistertitels in Rio de Janeiro beitrugen. Und da muss sie auch darüber nachgedacht haben, wie kläglich die Vorstellung der Deutschen bei der Europameisterschaft 2000 war und welche Erneuerungsbemühungen der DFB danach unternahm. Das führte sie dann vom Fußball zu einer auf ganz Deutschland übertragbaren Analogie: "Ein Problem erkennen. Es analysieren. Es lösen."

Eine Liebeserklärung

Und möglicherweise auch noch ein bisschen berauscht vom deutschen Tore-Festival an der Copacabana entstand dann auf der Titelseite des Magazins in schwarz-rot-goldenen Großbuchstaben das Fazit, das in seiner schlichten Übertreibung einer Lobeshymne an die ganze Nation gleichkommt: "Welcome to the German Century" - "Willkommen im Jahrhundert der Deutschen". Eine Liebeserklärung an den politisch zuletzt oft unbequemen transatlantischen Partner, der bei den Russland-Sanktionen nicht mitziehen will, wegen der Abhöraktionen der NSA quengelt und doch so vollmundig zum Alleskönner erklärt wird, dass deutschen Lesern etwas mulmig werden könnte - was steckt dahinter? Und: Repräsentiert die "Newsweek"-Analyse, zu deren Bebilderung neben Kanzlerin Angela Merkel auch die perfekt klischeehaften Fotos eines Maßkrugs, einer Bratwurst und eines Audi dienen, auch die allgemeine Einschätzung der Deutschen in den USA?

Fußball als Vorbild

Das Schema der erfolgreichen Problemlösung, das die "Newsweek"-Autorin im Fußball geortet hat, erstrecke sich in Deutschland vom häuslichen Leben über die Wirtschaft und Sozialpolitik bis hin zu Herausforderungen der Weltpolitik. Hinter diesem Kompliment versteckt sich gleichzeitig natürlich auch ein Lamento über den ernüchternden Ist-Zustand in Washington - und über die von allen Seiten des politischen Spektrums und Präsident Obama höchstpersönlich seit Jahren beklagte Unfähigkeit des Kongresses, die verhärteten Fronten zwischen Demokraten und Republikanern aufzubrechen. Und deshalb schaut man, und da trifft das Magazin den Zeitgeist ziemlich korrekt, neidisch über den großen Teich.

Was gefällt besonders? "Newsweek" nennt da beispielsweise die konsequente Förderung des Mittelstandes in Deutschland , während der liebste innenpolitische Schlager von Barack Obama ist, den Niedergang der "Middle Class" in den USA zu beklagen und nach fünfeinhalb Jahren im Amt Besserung zu versprechen. Neidisch ist man auch auf das gute Verhältnis zwischen den meisten Gewerkschaften und den Betrieben. Und die sozialen Errungenschaften der Deutschen: Von der "Elternzeit" beispielsweise mit bis zu 14 Monaten bezahlter Freistellung auch für den Papa können die US-Bürger angesichts der Schulden-Dauerkrise und einer traditionell dünnen Familienförderung im Land nur träumen.

Deutschland als Insel des Wohlstandes, als Antriebsmotor des Wachstums in Europa, als Vorbildmodell für soziale Marktwirtschaft. Auch führende US-Medien wie das "Wall Street Journal" und die "New York Times", die beide mit festen Korrespondenten in Berlin vertreten sind, haben in diesem Jahr aus der Liebe für Deutschland keinen Hehl gemacht. Vor allem Angela Merkel - vom Magazin "Time" in den letzten Jahren immer wieder als eine der mächtigsten Politiker auf der Welt geehrt - wird als zentrale Schaltfigur gesehen, die mit sicherer und gerne abwartender Hand bisher auch das Land vor den Folgen der Euro-Krise geschützt hat. Kein Wunder also, dass das Weiße Haus kaum eine Gelegenheit verpasst, in offiziellen Verlautbarungen die wirtschaftliche wie politische Bedeutung Deutschlands als Stabilitätsanker für Europa zu würdigen - obwohl hinter vorgehaltener Hand natürlich immer wieder angemerkt wird, die auch den Krisenländern der EU verordnete Sparpolitik müsse sich ändern.

Diese grundsätzliche Einschätzung Deutschlands als europäischer Musterknabe hat bisher auch all jene Irritationen überlebt, die sich durch die diversen Spionage-Affären ergeben haben. Der Washingtoner Transatlantik-Experte Dr. Jackson Janes, Direktor des American Institute for Contemporary German Studies der John-Hopkins-Universität, sieht deshalb den Schlüssel zur Bewunderung vor allem in der empirisch nachweisbaren ökonomischen Dominanz Deutschlands in Europa, aber auch "in den besonderen Einflussmöglichkeiten Berlins auf Russland und China".

Und das Weiße Haus hat, was die These vom "Jahrhundert der Deutschen" stützt, bei wichtigen innenpolitischen Zielen durchaus Deutschland als Vorbild genommen. Die weiter umstrittene, aber 2010 verabschiedete Gesundheitsreform "Obamacare" orientierte sich an der deutschen Kranken-Pflichtversicherung. In der Umwelt- und Energiepolitik gibt es ebenfalls größere Schnittflächen: Barack Obama fördert vor allem erneuerbare Energien. Den veralteten Kohle-Dreckschleudern wurde der Kampf so heftig angesagt, dass Kritiker aus der Branche bereits von "Krieg" reden. Lediglich beim Thema Atomkraft sind die sonst so bewunderten Deutschen kein Vorbild. Dass Berlin nach dem Schock des Fukushima-Desasters den Totalausstieg beschloss, hat in der US-Politik für Kopfschütteln gesorgt. Hierzulande gilt weiter die Auffassung: Die ohnehin wenig anspruchsvoll formulierten globalen Klimaschutz-Ziele sind ohne den "sauberen" und für sicher gehaltenen Atomstrom nicht zu erreichen.

Mehr Erfolg, mehr Pflichten

Mit der Liebe für das deutsche "Modell" verbindet die politische Elite in den USA aber auch einen besonderen Anspruch: Dass Deutschland stärker als bisher dazu beitragen müsse, die Krisenherde der Welt zu entschärfen. Mehr Verantwortung übernehmen, lautet immer wieder die Aufforderung. Etwas paradox ist diese Forderung allerdings auch, blickt man auf die neu formulierten Thesen Obamas zur Außen- und Sicherheitspolitik. In seiner Rede vor Kadetten der Militärakademie West Point verkündete der Präsident im Frühjahr praktisch den Ausstieg aus der Rolle des Weltpolizisten. Es scheint sogar, als würde sich Obama mittlerweile am Status quo Deutschlands orientieren, das nach amerikanischer Ansicht auf die Ausübung seiner Machtpositionen in Europa weitgehend verzichtet und es sich mit niemandem verderben möchte. Doch andererseits hofft Obama auch, dass Deutschland mithilft, das durch den amerikanischen Rückzug aus der Weltpolitik entstehende Vakuum zu füllen.

Streitfall Russland

Besonders deutlich wird der Graben zwischen Anspruch und Realität derzeit in der Russland-Politik, bei der US-Kommentatoren in den führenden Tageszeitungen unisono argumentieren: Die Freundlichkeiten Berlins gegenüber dem hierzulande als Bösewicht empfundenen Wladimir Putin haben seit Beginn der Ukraine-Krise ein geschlossenes Auftreten des Westens verhindert. Und es heißt dort auch: Obama sei mit seinem Ziel, die EU ins Sanktionsboot zu holen, vor allem am Widerstand Angela Merkels gescheitert, die die deutschen Wirtschaftsinteressen allen anderen Fragen überordne.

Allein schon dieser wunde Punkt - die Konzentration auf Eigeninteressen und der weitgehende Verzicht auf internationales Engagement - würde eigentlich genügen, um hinter die These vom "Jahrhundert der Deutschen" ein Fragezeichen zu setzen. Und dann ist da noch die Frage, ob die Stärke der Deutschen in der Wahrnehmung der USA nicht einen ganz anderen Grund hat. "An Berlin orientiert sich Washington vor allem deshalb immer wieder", sagt Jackson Janes, "weil wir überall anders in Europa so viel politische Schwäche und Unsicherheit sehen, vor allem in London und Paris." Angela Merkel hingegen sei 2013 zum dritten Mal wiedergewählt worden. "Wer kann schon", fragt Janes, "so viel Macht und Popularität in der EU für sich beanspruchen?"

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