Wie Wikileaks die USA blamiert"Da hatte wohl jeder Zugriff auf alles"Einschätzungen der USA über deutsche Politiker aus der Wikileaks-Enthüllung
Washington. Im Washingtoner Außenministerium haben sie seit Wochen nur das Schlimmste befürchtet. Rund um den Globus versuchten US-Gesandte, den Schaden im Vorfeld der neuesten Wikileaks-Veröffentlichung zu begrenzen. Daheim in der Zentrale waren Überstunden an der Tagesordnung, zuletzt wurde sogar der Urlaub über Thanksgiving gestrichen
Washington. Im Washingtoner Außenministerium haben sie seit Wochen nur das Schlimmste befürchtet. Rund um den Globus versuchten US-Gesandte, den Schaden im Vorfeld der neuesten Wikileaks-Veröffentlichung zu begrenzen. Daheim in der Zentrale waren Überstunden an der Tagesordnung, zuletzt wurde sogar der Urlaub über Thanksgiving gestrichen. Die Chefin Hillary Clinton musste unangenehme Telefonate mit ausländischen Regierungen führen. Sie wusste, dass ein "Gau" bevorstand, dass unzählige geheime Dossiers ihrer Diplomaten bei Wikileaks im Internet auftauchen. Die Frage war nur noch, wie schlimm der Alptraum tatsächlich sein würde.Am Montag, dem Tag nachdem Medien in aller Welt genüsslich aus dem Material zitierten, haben sich alle Befürchtungen bestätigt. Die Diplomatie der letzten verbliebenen Weltmacht ist bloßgestellt. Das Material liefert zwar kaum Neuigkeiten oder Sensationen. Aber den Amerikanern tun die vielen ungeschminkten Details weh, die nun ans Tageslicht gerieten. Die Namen von Quellen, die offen im Netz kursieren. Die Spekulationen über US-Botschafter, die ihre Informanten angeblich wie Geheimagenten ausspionieren mussten.
Die meisten ausländischen Regierungen demonstrierten Gelassenheit und vermieden, mit dem Zeigefinger auf die USA zu zeigen. Aber dass das Datenleck einen heftigen Schaden für die USA angerichtet hat, scheint unverkennbar. "Diese Enthüllungen sind der 11. September für die weltweite Diplomatie, weil sie alle vertraulichen Beziehungen zwischen den Staaten in die Luft jagen", urteilte Italiens Außenminister Franco Frattini. Der Vergleich mit den schlimmsten Terrorangriffen auf heimischen Boden dürfte die Amerikaner besonders schmerzen.
Kein Wunder, dass US-Präsident Barack Obama vor Wut auf Wikileaks schäumt. "Rücksichtslos" und "gefährlich" sei es, was die Truppe um Julian Assange da veranstalte, ließ Obama seinen Sprecher Robert Gibbs noch am Sonntag ausrichten. Die Menschenrechte in aller Welt hätten sie aufs Spiel gesetzt, Regimekritiker und Oppositionsführer, die mit US-Diplomaten verkehrten, seien in Todesgefahr. Politiker, die Obama sonst nicht wohl gesonnen sind, pflichteten ihm bei: "Verachtenswert", sei die Enthüllung, schimpfte der Senator Joe Liebermann. "Die Verantwortlichen haben zweifelslos Blut an ihren Händen."
Die Offenlegung der über 250 000 Depeschen verschlimmert Obamas Dilemma nur noch. Innenpolitisch steht ihm das Wasser bis zum Hals, sein Volk klagt über eine hohe Arbeitslosigkeit und verlangt von seinem Präsidenten endlich Taten.
Und jetzt auch noch Wikileaks. Die USA würden in nächster Zeit "viel Arbeit darauf verwenden müssen, das verloren gegangene Vertrauen ihrer Partner wieder aufzubauen", orakelt das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel". Die "New York Times" findet es "vorstellbar", dass das Verhältnis zu anderen Staaten Schaden erleidet. Internationale Angelegenheiten könnten "in einer Weise beeinflusst werden, die man unmöglich vorhersagen kann".
Besonders im Nahen und Mittleren Osten und in Asien könnten die USA vor einem Scherbenhaufen stehen. In den Terrorhochburgen ist sie besonders auf Informanten angewiesen, die sich nach der Enthüllung wohl zweimal überlegen, ob der Kontakt mit den Amerikanern noch sicher ist. Die Details aus den Papieren etwa über die Konflikte im Irak, im Jemen, im Libanon, in Saudi-Arabien und Bahrain haben nicht gerade für neues Vertrauen bei den Arabern gesorgt. Berlin. Die Affäre um die Veröffentlichung geheimer Depeschen durch die Enthüllungsplattform Wikileaks hat bei Sicherheitsexperten in Deutschland Kopfschütteln ausgelöst. "Die führende IT-Nation USA hat sich bis auf die Knochen blamiert", sagte der Karlsruher Sicherheitsexperte Christoph Fischer. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 hätten unzählige Mitarbeiter der Ministerien und Sicherheitsbehörden Zugriff auf die Daten bekommen, die zuvor einem deutlich kleineren Kreis von Berechtigten vorbehalten gewesen seien. "Das ist nun die Quittung dafür." Der Münchner Sicherheitsexperte Arne Schönbohm sieht in dem Vorfall einen Beweis für ein mangelhaftes Daten-Management der US-Sicherheitsdienste. "Da hatte wohl jeder Zugriff auf alles." Die US-Regierung müsse die Richtlinien für den Zugriff überarbeiten, um einen besseren Schutz der vertraulichen und geheimen Daten zu gewährleisten.
Geheime Informationen werden üblicherweise nicht nur durch technische Maßnahmen wie Verschlüsselung oder sichere Passwörter geschützt, sondern durch eine Begrenzung des Zugriffs. Beim "Need-to-know-Prinzip" ("Kenntnis nur bei Bedarf") kann eine Person nur dann auf Daten zugreifen, wenn diese unmittelbar für die Erfüllung einer konkret definierten Aufgabe notwendig sind.
Experten gehen davon aus, dass der US-Obergefreite Bradley Manning die Quelle der von Wikileaks veröffentlichen Daten ist. Manning hatte als Sicherheitsspezialist der US-Streitkräfte im Irak Zugang zum verschlüsselten US-Regierungsnetzwerk SIPRNet. Manning wurde im Mai in Kuwait festgenommen, nachdem sein Chat-Partner Adrian Lamo den Soldaten bei den Sicherheitsbehörden gemeldet hatte.
Auch im Bonner Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnologie (BSI) geht man davon aus, dass die Amerikaner nur unzureichend die Zugriffsprotokolle ihres Netzwerks analysiert haben. Log-Dateien der Rechner müssten systematisch ausgewertet werden, um eine auffällige Nutzung von Datensätzen zu bemerken. dpaÜber Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU, Fotos: dpa): "Merkel ist methodisch, rational und pragmatisch." "Wenn sie in die Enge getrieben wird, ist sie hartnäckig, aber sie meidet das Risiko und ist selten kreativ." Über FDP-Chef Guido Westerwelle vor seiner Berufung zum Außenminister "Er wird, wenn er direkt herausgefordert wird, vor allem von politischen Schwergewichten, aggressiv und äußert sich abfällig über die Meinung anderer Leute." "Westerwelle ist eine unbekannte Größe; seine überschäumende Persönlichkeit ist nicht dazu geeignet, bei Streitfragen mit Kanzlerin Merkel in den Hintergrund zu treten." Über CSU-Chef Horst Seehofer: Ein "unberechenbarer Politiker". "Insgesamt hatte Seehofer zu außenpolitischen Themen wenig zu sagen und schien selbst über grundlegende Dinge nicht informiert."
Über Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU): Ein "außenpolitischer Experte, Transatlantiker und ein enger und bekannter Freund der USA".
Über Günther Oettinger (CDU): "Kanzlerin Angela Merkel hat Baden-Württembergs Ministerpräsidenten Günther Oettinger vor allem als EU-Kommissar für Energie nominiert, um eine ungeliebte lahme Ente von einer wichtigen CDU-Bastion zu entfernen." Über Wolfgang Schäuble (CDU) im Jahr 2008: "Kein anderer deutscher Offizieller setzt sich derart intensiv und öffentlich für eine engere bilaterale Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen ein wie Wolfgang Schäuble." Über den ehemaligen saarländischen Ministerpräsidenten und Linken-Chef Oskar Lafontaine: "Er bleibt die mysteriöse rote Sphinx." dpa
Hintergrund
Die Betreiber des Internetportals Wikileaks machen brisante Dokumente öffentlich zugänglich. Das heiße Material erhalten sie von anonymen Informanten. Kritische Journalisten und Blogger sollen die Dokumente aufgreifen und die Öffentlichkeit informieren. Dass der Name an das Mitmach-Lexikon Wikipedia erinnert, ist gewollt. Bei Wikileaks geht es aber speziell um geheime Dokumente, das englische Wort "leak" bedeutet "undichte Stelle". Die Informanten werden auch "Whistleblower" (Tippgeber) genannt. Die Macher von Wikileaks bezeichnen ihre Plattform als unzensierbar. Eine komplexe technische Infrastruktur soll gewährleisten, dass die Dokumente nach Veröffentlichung nicht mehr zu löschen sind. dpa