Wie sich deutsche IS-Kämpfer radikalisieren

Berlin · Rund hunderttausend Kurden aus Syrien sind allein am Wochenende in die Türkei geflüchtet. Sie werfen Ankara vor, viel zu wenig im Kampf gegen die IS-Terroristen zu tun. Viele Kurdenpolitiker vermuten sogar eine heimliche Zusammenarbeit.

Philip B., Robert B., Ahmet C., Rashid B., Osama B. - das sind die Namen der fünf deutschen Dschihadisten , die bislang als Selbstmordattentäter für die Terrormiliz Islamischen Staat (IS) im Irak und in Syrien identifiziert sind. Doch es sind nicht alle - einige mehr sollen im Auftrag der Radikal-Islamisten andere Menschen mit in den Tod gerissen haben.

Schon früher gab es islamistische Selbstmordattentäter aus Deutschland , etwa in Afghanistan. Doch in Syrien und im Irak sehen Experten eine andere Dimension - was Zahl und Radikalität angeht. Der IS greife gern auf Männer aus Deutschland und Europa zurück, weil sie so besonders emotionalisiert seien, heißt es.

Deutsche Behörden gehen von weit mehr als 400 Ausreisen aus der Bundesrepublik in Richtung beider Länder aus. Etwa 130 dieser Männer sind nach Deutschland zurückgekehrt, bei 25 gibt es konkrete Hinweise auf Kampferfahrung. Die meisten kehren nach Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden direkt in ihr islamistisches Umfeld zurück. Desillusioniert von der Brutalität oder dem harten Leben im Kampfgebiet sind die wenigsten. Sie sehen die alte Heimat Deutschland oft eher als Ruhe- und Rückzugsraum.

Etliche der Rückkehrer wollen nach ein paar Wochen oder Monaten in Deutschland , wo sie teilweise zu Propagandazwecken in der Szene herumreisen und um Spenden und neue Kämpfer werben, wieder ins Kriegsgebiet zurück. Einer Reihe von ihnen soll dies gelungen sein, fast immer über die Türkei. Die deutschen Sicherheitsbehörden können meist wenig tun - oft ist den Verdächtigen nichts nachzuweisen. Und für eine Reise in die Türkei genügt der Personalausweis.

Als zentralen Faktor bei der Radikalisierung junger Deutscher sehen die Behörden den zunehmenden Einsatz von Smartphone-Apps. Verfassungsschutz-Präsident Hans-Georg Maaßen warnte kürzlich, durch die in sozialen Medien und Messenger-Diensten "verbreitete Dschihad-Romantik wird eine virtuelle Nähe und Vertrautheit geschaffen, die weitere Ausreisen in den Dschihad fördert". Beim "Heiligen Krieg" (Dschihad ) im Netz geht der Trend demnach weg von Facebook , hin zu Diensten wie WhatsApp, mit deren Hilfe die Kämpfer ihre Erlebnisse quasi in Echtzeit übertragen.

Unvorstellbare Gewalt ist da zu sehen, deutsche Gotteskrieger filmen sich auf dem Weg zu Attentaten oder in den Kampf, vermitteln das Gefühl einer verschworenen Gemeinschaft. Auf die jugendliche Islamistenszene daheim wirke das anziehend, oft reiche die Internetkommunikation mittlerweile zur Radikalisierung aus, sagen Experten. Viele, die sich in Deutschland als Außenseiter fühlen, als "Underdogs", sehen die Kämpfer demnach als Vorbild. Als "Topdogs", wie sie sich selbst nennen. Gibt es ein typisches Profil der vielen jungen Männer und wenigen Frauen, die ins IS-Kampfgebiet gereist sind? Eine noch unveröffentlichte Studie der Sicherheitsbehörden , der Daten von rund 380 Ausgereisten zugrunde liegen, kommt zum Schluss: Nein. Biografien und Radikalisierungshintergründe sind vielfältig. Aber fast ausnahmslos sei Radikalisierung mit Salafismus-Kontakten verbunden, heißt es da. Über 6000 Leute werden dieser besonders konservativen islamistischen Szene in Deutschland zugeordnet, die kompromisslos auf eine "islamische Ordnung" mit der Alleingültigkeit islamischen Rechts ("Scharia") setzt.

82 Männer und Frauen der radikalisierten Deutschen waren nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes arbeitslos, nur zwölf Prozent berufstätig - überwiegend im gering-qualifizierten Sektor, heißt es. Bei 249 der insgesamt 378 analysierten Männer und Frauen gibt es zudem Hinweise, dass sie Straftaten begangen haben. Sie kommen über die staubige Ebene. Viele haben nicht mehr retten können, als die Kleidung, die sie am Leib tragen: Rund hunderttausend Kurden aus Syrien sind am Wochenende auf der Flucht vor der Gewalt der Dschihadisten-Miliz "Islamischer Staat" (IS) in die benachbarte Türkei geströmt. Gefechte zwischen dem IS und Verbänden der syrischen Kurden toben nur rund 15 Kilometer von der Grenze entfernt, einige Flüchtlinge berichteten von Enthauptungen in Dörfern, die vom IS erobert wurden. Kurdenpolitiker warfen Ankara vor, trotz der Gefahr jede Unterstützung für die syrischen Kurden im Kampf gegen den IS zu verhindern und so den Ex tremisten zu helfen.

Fast 50 türkische Geiseln , die im Juni bei der Erstürmung des türkischen Generalkonsulats im nordirakischen Mossul durch den IS in die Gewalt der Extremisten gerieten, kehrten am Samstag in die Türkei zurück. Präsident Recep Tayyip Erdogan sprach von einem "Erfolg der Diplomatie" - demnach hat der türkische Geheimdienst MIT die Freilassung der Geiseln mit dem IS ausgehandelt.

Die große Frage lautet, welche Gegenleistung die Türkei erbracht hat. Dem IS zufolge sagte die Türkei in den Verhandlungen zu, sich nicht an den geplanten westlichen Militärschlägen gegen die Dschihadisten in Syrien zu beteiligen. In anderen unbestätigten Berichten hieß es, die Türkei habe dem IS freie Hand bei der Eroberung der syrischen Grenzstadt Ayn al-Arab - auf Kurdisch Kobane - zugesagt.

Seit Tagen greift der IS die Einheiten der syrischen Kurden an der Grenze zur Türkei bei Kobane an und treibt damit zehntausende Menschen in die Flucht in die Türkei. Nach UN-Angaben könnten in den kommenden Tagen mehrere hunderttausend weitere Menschen in der Türkei ankommen.

Mit der Offensive bei Kobane will der IS seine Macht in der Grenzregion ausbauen, wo die syrischen Kurden in den vergangenen Jahren eine inoffizielle Autonomiezone eingerichtet haben. In der Türkei rief die kurdische Rebellengruppe PKK ihr Anhänger auf, über die Grenze nach Syrien zu gehen und gegen den IS zu kämpfen. Mehrere hundert bewaffnete Rebellen sollen bereits in Kobane angekommen sein.

Ankara weist den Vorwurf einer Unterstützung für den IS strikt zurück. Die Lage an der Grenze bei Kobane dürfte den Verdacht einer heimlichen Zusammenarbeit jedoch neu anfachen. Kurdenpolitikern zufolge ist es Ankara nur recht, wenn der IS die kurdische Autonomie auf der syrischen Seite der Grenze zerschlägt. Diese Strategie werde aber nicht aufgehen, warnte die Kurdenpolitikerin Tugluk: "Wer heute den IS unterstützt, der kann schon morgen vom IS angegriffen werden." Vor der UN-Generalversammlung in der kommenden Woche werben die USA für ein globales Bündnis im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS). "Das hier ist nicht Amerika gegen den Islamischen Staat", sagte US-Präsident Barack Obama am Wochenende. "Das ist die Welt gegen den Islamischen Staat." Mehr als 40 Länder unterstützten mittlerweile die Koalition gegen den IS. Auf der am Mittwoch beginnenden UN-Vollversammlung will Obama um weitere Unterstützer werben.

Im Irak hatten die USA ihre Luftangriffe gegen IS-Stellungen weiter ausgeweitet. Am Samstag flogen sie nach Augenzeugenberichten erstmals Angriffe unmittelbar im Zentrum von Mossul. Die Stadt ist eine Hochburg der Terrormiliz. Ex tremisten hatten sie Mitte Juni in einem Blitzangriff eingenommen und von dort aus weitere Teile des Iraks erobert. Bislang hatten die USA vor allem das Umland von Mossul bombardiert. Am Freitag waren dabei nach Berichten von Augenzeugen 22 IS-Kämpfer ums Leben gekommen. In New York war zuvor der UN-Sicherheitsrat zu einer Sondersitzung zusammengekommen. In einer gemeinsamen Erklärung verurteilte das Gremium die Tötungen, Vergewaltigungen, Entführungen und Folter der Terrormiliz auf das Schärfste. Die Verantwortlichen müssten zur Rechenschaft gezogen werden, heißt es in dem Papier. Einige der Verbrechen "könnten Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen".

Meinung:

Nur schlechte Optionen

Von SZ-MitarbeiterinSusanne Güsten

Raushalten geht nicht mehr. Über Wochen begründete die türkische Führung unter Präsident Recep Tayyip Erdogan ihr Nein zu einer Teilnahme an Militäraktionen gegen den IS mit der Gefahr für die vom IS verschleppten türkischen Geiseln . Seit Samstag sind die Geiseln wohlbehalten wieder in der Türkei. Nun kann die Türkei nicht mehr länger passiv bleiben, wenn in den Nachbarländern Syrien und Irak eine Terrorgruppe ihr Machtgebiet ausweitet. Allerdings hat die Türkei lediglich die Wahl zwischen schlechten Optionen. Entscheidet sie sich für die militärische Teilnahme an der Offensive, riskiert die Türkei Vergeltungsaktionen der Dschihadisten . Beschließt Ankara , den Verbündeten nur das Mindestmaß an Unterstützung zukommen zu lassen, verstärkt sie den Verdacht, mit dem IS zu kooperieren. Vor einer Festlegung erwartet Ankara von den USA einen Plan für die Zukunft von Syrien und Irak nach einem Sieg über den IS. Die Forderung ist an sich richtig: Das Fehlen einer durchdachten politischen Strategie machte den amerikanischen Feldzug zum Sturz von Saddam Hussein im Jahr 2003 zu einem Desaster. Allerdings zeigte die Türkei bisher nur wenig Interesse an einer solchen gemeinsamen Strategie, weil sie in Syrien darauf hoffte, von einem Sturz von Assad zu profitieren.

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