Wie die Angst den Verdacht schürtHohe Strahlenbelastung im Meerwasser nahe des Atomreaktors Fukushima

Tokio. Die Angst vor der Verstrahlung ist groß. So groß, dass in einigen Notunterkünften für Erdbebenopfer schon "Strahlenzertifikate" nötig sind. Wer nicht auf Radioaktivität geprüft wurde, darf nicht rein. Die Informationen über die Atomkatastrophe sind spärlich, viele Japaner werden dadurch immer verunsicherter

Tokio. Die Angst vor der Verstrahlung ist groß. So groß, dass in einigen Notunterkünften für Erdbebenopfer schon "Strahlenzertifikate" nötig sind. Wer nicht auf Radioaktivität geprüft wurde, darf nicht rein. Die Informationen über die Atomkatastrophe sind spärlich, viele Japaner werden dadurch immer verunsicherter. In die Angst vor Radioaktivität mischt sich zunehmend Ärger über den Mangel an genauen Informationen.Bürgermeister von Gemeinden klagen darüber, dass die Behörden und auch die Medien nach der Bekanntgabe erhöhter Werte keine weiteren Informationen bereitstellen - und die Menschen über die tatsächliche Gefahr im Unklaren lassen. Die Beteuerungen der Behörden, die Strahlen seien keine unmittelbare Gefahr für die Bevölkerung, werden zunehmend angezweifelt.

"Das größte Problem sind Verdächtigungen. Wenn Zweifel aufkommen, ob Informationen falsch sind oder verheimlicht werden, entsteht Panik", warnt Hirose Hirotada, Professor für Psychologie an der Tokyo Womans Christian University. Daher sei es wichtig, akkurat und schnell zu informieren. Nur so könne übertriebene Furcht in der Bevölkerung bekämpft werden. Die Regierung in Tokio versprach darauf gestern Besserung. Um die Gemeinden mit mehr und leichter verständlichen Informationen zu versorgen, sei ein Verbindungsbüro eingerichtet worden, erklärte Regierungssprecher Yukio Edano. Ob das reicht, ist unklar.

Denn die Mehrheit der Japaner ist unzufrieden, wie die Regierung mit der Atomkrise umgeht. In einer Umfrage kritisieren 58,2 Prozent der Befragten den Umgang der Regierung mit der Katastrophe in Fukushima. Es gibt zudem Stimmen, die verlangen, dass Japan internationale Experten zur Bekämpfung der Atomkrise hinzuziehen sollte.

Die Furcht vor der Verstrahlung geht soweit, dass einige Notunterkünfte von Flüchtlingen Nachweise verlangen, dass sie sich auf Strahlen haben untersuchen lassen. Ärzte hatten laut japanischen Medien damit begonnen, "Zertifikate" für Menschen auszustellen, die auf Strahlen untersucht und für problemfrei befunden wurden. In einem Notlager, das Flüchtlinge aus der 20-Kilometer-Zone um das Kraftwerk aufnimmt, wurde laut Medien ein Schild am Eingang aufgestellt mit der Aufschrift: "Diejenigen, die sich nicht Strahlenprüfungen unterzogen haben, dürfen nicht rein."

"Wir haben eine steigende Zahl von Fällen festgestellt, wo Bewohnern aus den Evakuierungsgebieten der Zutritt (zu Flüchtlingslagern) verwehrt wurde", sagte Hiroyuki Hayashi, ein mit Strahlenuntersuchungen beauftragter Arzt, der Nachrichtenagentur Kyodo.

Viele Menschen auch in den Nachbarregionen fühlten sich wegen der Berichte über verstrahltes Gemüse "stigmatisiert", obwohl viele ihrer Erzeugnisse überhaupt nicht belastet seien, berichtete die EU-Kommissarin für humanitäre Hilfe, Kristalina Georgiewa, nach einem Besuch in einem Notlager.

Auch bei ihrem Aufenthalt in der Region hätten die gemessenen Daten deutlich unter den Grenzwerten gelegen. Viele Menschen wissen jedoch nicht, wie die Situation in ihrer eigenen Umgebung aktuell aussieht. Das sorgt für Verunsicherung. "Die lokale Bevölkerung ist sehr besorgt über die radioaktive Belastung", sagte Georgiewa. Vor allem Mütter seien verängstigt. "Viele fragen: Kann mein Kind noch draußen spielen?"

Auch Fischer und Bauern sind besorgt, ob sie überhaupt jemals wieder dort leben und arbeiten können, selbst wenn ihre Heimatorte wieder aufgebaut würden. Deshalb nehmen auch manche Bewohner von Notunterkünften die Angebote der Behörden nicht an, in vorübergehende Behelfshäuser umzuziehen. Es sei daher wichtig, mehr Gemeinden eigene Messgeräte bereitzustellen, sagte Georgiewa. Doch Daten allein reichten nicht. Diese müssen auch verstanden werden. Das aber ist für einfache Bürger oft nicht möglich. Daher bemühen sich jetzt nicht nur die Regierung, sondern auch Studenten als freiwillige Helfer darum, Strahlenmessungen auszuwerten und den Menschen in den Regionen verständlich zu vermitteln. "Angst vor Radioaktivität führt zum Ausbreiten von Gerüchten", warnt Hayashi.

Tokio/Fukushima. Die radioaktive Verseuchung um das japanische Katastrophen-Atomkraftwerk Fukushima hat teils extreme Werte erreicht. Das Meer nahe der maroden Meiler ist immer stärker belastet. Über die Strahlenwerte in dem zerstörten Kraftwerk gab es am Wochenende alarmierende und widersprüchliche Angaben.

Im Wasser des Turbinenhauses von Reaktor 2 war die Radioaktivität etwa zehn Millionen Mal höher als normalerweise, erklärte Tepco zunächst. Möglicher Grund dafür sei ein undichter Reaktorkern. Arbeiter, die seit mehr als zwei Wochen verzweifelt versuchen, diesen und die anderen Krisenmeiler zu kühlen und Messungen durchführten, mussten daraufhin erneut das Feld räumen.

Später stellte Tepco seine eigenen Angaben zur Ursache und Stärke der Radioaktivität in Block 2 infrage. Womöglich seien andere radioaktive Substanzen als das bisher gemeldete Jod-134 im Wasser des Turbinenhauses enthalten. Am Abend korrigierte Tepco seine Angaben und teilte mit, die Strahlenbelastung sei nicht Millionen Mal, sondern 100 000 Mal höher als normal.

Auch die Reaktorsicherheitsagentur Nisa hatte von einer hohen Konzentration des Isotops Jod-134 im Wasser von Reaktor 2 berichtet. Auch dies könne auf einen Schaden am Reaktorkern hinweisen, hieß es. Die Regierung forderte Tepco gestern auf, herauszufinden, woher das radioaktiv verseuchte Wasser komme.

Die Agentur Jiji berichtete von einer Strahlenbelastung von 1000 Millisievert pro Stunde im Wasser von Block 2. Das würde bedeuten, dass ein Arbeiter den bereits angehobenen Grenzwert von 100 auf 250 Millisievert binnen 15 Minuten abbekommen hätte.

Das Meer vor Fukushima wird unterdessen zunehmend radioaktiv mit dem Isotop Jod-131 verseucht. Gestern übertraf die Strahlung den zulässigen Grenzwert bereits um das 1850-fache. Am Samstag war es noch das 1250-fache. dpa "Angst vor Radioaktivität führt zum Ausbreiten von Gerüchten"

Hiroyuki Hayashi, mit Strahlenuntersuchungen beauftragter Arzt

Meinung

Chaos und Verharmlosung

Von SZ-MitarbeiterBernhard Bartsch

Je länger sich der Kampf um die Rettung des Unglückskraftwerks Fukushima hinzieht, umso deutlicher tritt zu Tage, wie unvorbereitet die Betreiberfirma Tepco und die japanische Regierung von dem Unfall getroffen wurden. Effektive Notfallpläne scheint es nicht gegeben zu haben, die Einsatzkräfte improvisieren mehr schlecht als recht. Das Chaos im Kraftwerk lässt sich vor der Bevölkerung nicht mehr verheimlichen. Die Regierung warnt vor Panikmache, doch schon lange ist unklar, wie viel Verharmlosung oder Unwissenheit hinter ihren Botschaften steckt. Selbst wenn Fukushima nicht das Ende des Atomenergiezeitalters einläutet, so müssen wenigstens die Sicherheitsstandards und Krisenpläne von Grund auf überholt werden - und das mit voller Transparenz.

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