Meinungsfreiheit Wie der linke „Kretzsche“ aus Versehen zum Held der AfD wurde

Saarbrücken/Berlin · Eigentlich wollte der frühere Handball-Weltstar nur für mehr Meinungsfreiheit im Profisport appellieren. Doch das kam nicht so an – und endete „grotesk“.

 Stefan Kretzschmar prägte den deutschen Handball über viele Jahre als Spieler und Charakterkopf. Dafür eckte er in seiner aktiven Zeit oft an – genau wie heute wieder mit seinem Appell für mehr Meinungsfreiheit im Sport.  Foto: Stache/dpa 

Stefan Kretzschmar prägte den deutschen Handball über viele Jahre als Spieler und Charakterkopf. Dafür eckte er in seiner aktiven Zeit oft an – genau wie heute wieder mit seinem Appell für mehr Meinungsfreiheit im Sport. Foto: Stache/dpa 

Foto: dpa/Soeren Stache

Der „Kretzsche“ lässt sich nicht den Mund verbieten – oder verbiegen. Das würde auch gar nicht zu Stefan Kretzschmar, wie „Kretzsche“ richtig heißt, passen. Der 45-jährige Leipziger hat schließlich mit seinem Image als „der andere Profi“, seinen schrillen Outfits, lässigen Sprüchen, seinem „Franziska van Almsick“-Tatoo deutsche Handball- und Boulevard-Geschichte geschrieben.

Und jetzt ist der 218-fache Nationalspieler sogar zur Galionsfigur einer Meinungsfreiheits-Debatte in Deutschland geworden. Den Wirbel ausgelöst hat der Sportstar mit einem Interview, das er vergangene Woche „t-online.de“ gegeben hatte. „Welcher Sportler äußert sich denn heute noch politisch? Es sei denn, es ist die politische Mainstream-Meinung, wo man gesagt hat: ‚Wir sind bunt’ und ‚Refugees welcome’. Wo man gesellschaftlich eigentlich nichts falsch machen kann.“ Eine gesellschafts- oder regierungskritische Meinung dürfe man in diesem Land nicht mehr haben. „Das wird dir sofort vorgeworfen.“

Der einstige Linksaußen bekommt dafür ausgerechnet von Rechtsaußen Zuspruch. Von der AfD. Einer von ihnen ist Bundestagsmitglied Jens Kestner: „Herr Kretzschmar verdient meinen Respekt, weil er öffentlich anprangert, dass die Meinungsfreiheit in Deutschland beschnitten wird! (...) Die Meinungsfreiheit in Deutschland existiert nur auf dem Papier; die Realität sagt leider etwas anderes.“

Das irritiert hingegen Kretzschmar als einstigen linken Szenegänger und zeitweiligen Hausbesetzer. Er fühlt sich inzwischen offiziell falsch verstanden. „Wenn man meine Biografie kennt, ist die Instrumentalisierung meines Interviews von politischen Gruppierungen, die meiner eigenen politischen Einstellung nicht ferner liegen könnten, schon grotesk. Aber wenn irgendein Sportler oder eine Person des öffentlichen Lebens noch einen Beweis für meine These gebraucht hat. Damit hat er sie bekommen“, sagt er zur „Bild“.

Kretzschmar sieht seine Aussagen völlig aus dem Kontext gerissen. „Mir wurde im Interview die Frage gestellt: ‚Warum gibt es keine Typen mehr, keine Persönlichkeiten mit Ecken und Kanten?‘ Daraufhin habe ich geantwortet, dass ich jeden Menschen, der in der Öffentlichkeit steht, verstehen kann, wenn er sich heutzutage nicht mehr kritisch äußert und demzufolge auch nicht mehr aneckt.“ Menschen, die sich in ökonomischen Abhängigkeiten (Arbeits- und Sponsorenverträge) befänden, hätten eben eine eingeschränkte Meinungsfreiheit.

„Absurd“, findet Bundestagsvize Wolfgang Kubicki (FDP) die Äußerung Kretzschmars. Sie beweise doch in sich selbst, dass alles geäußert werden könne. „Zur Meinungsfreiheit gehört auch der Mut zur Meinungsäußerung“, sagte Kubicki ebenfalls der „Bild“. „Kretzschmar beschreibt keine Einschränkung der Meinungsfreiheit, sondern Feigheit.“

Aber dürfen oder sollen Profisportler wirklich nichts mehr sagen? Sporthilfe-Chef Michael Ilgner widerspricht: „Athleten haben den Kopf nicht nur zum Medaillen umhängen. Sie sollen auch nach dem Sport noch fähig sein, eine gute Rolle in der Gesellschaft zu spielen.“ Soziale Netzwerke wie Twitter hätten den Vor- und den Nachteil der Verkürzung und der Zuspitzung von Meinungen, erklärte Ilgner gestern. „Deshalb muss man schon überlegen, welches Thema und welche Diskussion man in welchen Medien anschieben sollte.“ Hier ist er mit Kretzschmar auf Linie, der eine „zunehmende Verrohung“ durch Social Media anprangert. Genau wie Grünen-Chef Robert Habeck vor wenigen Tagen, als er seinen Facebook- und Twitter-Ausstieg verkündete.

Und was bleibt am Ende? Womöglich das: In Netzwerken kann jeder sagen, was er will. Er muss aber mit den Konsequenzen klarkommen. Und: In Deutschland gibt es auch eine „negative Meinungsfreiheit“. Es ist die Freiheit, einfach mal nichts zu sagen...

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