Wider das Schweigen

Berlin. Am Ende eines langen Briefes standen zwei Sätze: "Warum schreibe ich Ihnen das überhaupt? Ich wollte es einfach loswerden." Seit sie Beauftragte der Bundesregierung zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs ist, hat Christine Bergmann (Foto: dpa) 800 Briefe von Opfern mit teils ähnlichem Tenor gelesen

Berlin. Am Ende eines langen Briefes standen zwei Sätze: "Warum schreibe ich Ihnen das überhaupt? Ich wollte es einfach loswerden." Seit sie Beauftragte der Bundesregierung zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs ist, hat Christine Bergmann (Foto: dpa) 800 Briefe von Opfern mit teils ähnlichem Tenor gelesen. Niemand könne jedoch nachempfinden, was Betroffene erlebt hätten, was es bedeute, "ein Leben lang damit leben zu müssen", betonte Bergmann. Aber: Wer sein oft jahrzehntelanges Schweigen breche, der breche auch die Macht der Täter. Kinder könnten nur dann besser vor Missbrauch geschützt werden, wenn Tätern der Schutz genommen werde. Und damit immer mehr betroffene Menschen sich dessen bewusst werden, startete Bergmann gestern in Berlin zusammen mit dem Erfolgsregisseur Wim Wenders (Foto: dpa) die Kampagne "Sprechen hilft".

Nach ihrer Einrichtung im Frühjahr meldeten sich bei der von Bergmann geleiteten Anlaufstelle für Missbrauchsopfer insgesamt 2500 Personen, davon 1700 per Telefon. Fast zwei Drittel (62 Prozent) der Anrufer seien Opfer, 17 Prozent direkte Angehörige oder Freunde gewesen. 60 Prozent der Betroffenen hatten sich vorher noch nie jemandem anvertraut. 93 Prozent berichteten vom Missbrauch aus der Vergangenheit, oft 20 Jahre zurückliegend, vielfach auch 40 bis 50 Jahre.

Die meisten Missbrauchs-Taten seien über Jahre hinweg geschehen. "Es sind nicht die Fremdtäter auf dem Spielplatz", befand der Psychotherapeut Jörg Fegert, der die Nutzung der Anlaufstelle wissenschaftlich untersucht. In der Regel kämen die Täter aus dem Beziehungsumfeld.

Der bislang älteste Anrufer der Hotline war 80 Jahre alt, der jüngste zehn. Zudem habe es deutlich mehr Anrufe aus den westlichen Bundesländern und den großen Städten als aus dem Osten und vom Land gegeben, so Fegert. Besonders aufwühlend war für die 65 Experten der Anlaufstelle und der Hotline, dass sich auch elf Täter meldeten. Manch einer nur, um sich zu rechtfertigen. Andere wiederum konnten die Psychologen motivieren, sich therapeutisch behandeln zu lassen. Die Möglichkeit der Anzeige ergab sich nicht, da die Gespräche anonym stattfinden.

Fast alle Opfer hätten eine "Botschaft an die Politik" hinterlassen, so Bergmann. Viele wünschten sich mehr Therapieangebote und eine schnellere Beratung. Auch sei den Betroffenen das Thema Entschädigungen sehr wichtig gewesen. Nicht als eine Art "Schweigegeld oder Wiedergutmachung, sondern als Anerkennung von Unrecht", meinte die SPD-Politikerin. Ein Fonds, gespeist durch Institutionen mit Missbrauchsfällen und von der Regierung, sei dafür eine Lösung.

Neben dem besseren Schutz von Kindern durch mehr Aufklärung hätten viele Opfer auch die Verlängerung von Verjährungsfristen gefordert. Das wird derzeit vom runden Tisch diskutiert, der nach Bekanntwerden der vielen Missbrauchsfälle unter anderem in der katholischen Kirche vom Familien- und Justizministerium eingerichtet worden war.

Mit Plakaten, Anzeigen und Fernsehspots, die das Ehepaar Donata und Wim Wenders in Szene gesetzt hat, sollen Opfer und Angehörige nun ermutigt werden, über den Missbrauch zu reden. "Das ist ein erster Schritt, die Täterschaft enden zu lassen", erklärte Regisseur Wenders. "Das ist ein erster Schritt, die Täterschaft enden zu lassen."

Regisseur

Wim Wenders

bei der Vorstellung

der Kampagne

"Sprechen hilft" gegen sexuellen Missbrauch, die er mit der Regierungsbeauftragten Christine Bergmann gestartet hat

Hintergrund

Nach dem bundesweiten Missbrauchs-Skandal hat die katholische Kirche nun neue Leitlinien für das Vorgehen gegen sexuellen Missbrauch. Der Trierer Bischof Stephan Ackermann hatte diese vor drei Wochen vorgestellt. Demnach wird bei jedem Verdacht auf sexuellen Missbrauch automatisch die Staatsanwaltschaft eingeschaltet. Die Anzeigepflicht entfällt in Ausnahmefällen nur dann, wenn das Opfer dies ausdrücklich wünscht. Opfern soll es zudem leichter gemacht werden, sich zu melden. Die in den Bistümern beauftragten Ansprechpersonen sollten nicht zur Bistums-Leitung gehören. Wer in der Kinder- oder Jugendarbeit eingesetzt werden will, muss ein erweitertes polizeiliches Führungszeugnis vorlegen. red/dpa

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