Wichtig ist, dass es Lukas gut geht

Neunkirchen. "Ich muss Pippi." Lukas unterbricht seine Fahrt auf dem Bobbycar und wendet sich hilfesuchend an seinen Vater. "Dann komm." Liebevoll nimmt Daniel Rebele seinen dreijährigen Sohn an die Hand und verlässt das Zimmer. Auf den ersten Blick wirken Lukas, sein 34-jähriger Papa und seine 20-jährige Mama Jennifer Fritz wie eine ganz gewöhnliche Familie

 Jennifer Fritz und Daniel Rebele mit Sohn Lukas leben derzeit noch im Wohnheim der Lebenshilfe in Neunkirchen. Foto: Andreas Engel

Jennifer Fritz und Daniel Rebele mit Sohn Lukas leben derzeit noch im Wohnheim der Lebenshilfe in Neunkirchen. Foto: Andreas Engel

Neunkirchen. "Ich muss Pippi." Lukas unterbricht seine Fahrt auf dem Bobbycar und wendet sich hilfesuchend an seinen Vater. "Dann komm." Liebevoll nimmt Daniel Rebele seinen dreijährigen Sohn an die Hand und verlässt das Zimmer. Auf den ersten Blick wirken Lukas, sein 34-jähriger Papa und seine 20-jährige Mama Jennifer Fritz wie eine ganz gewöhnliche Familie. Doch eines unterscheidet sie von anderen: Der aufgeweckte Junge mit dem blonden Lockenschopf lebt seit zwei Jahren mit seinen geistig behinderten Eltern in der Wohnstätte der Lebenshilfe Neunkirchen im Altseiterstal. Gemeinsam mit dem Landes- und dem Kreisjugendamt sowie dem Landesamt für Soziales, Gesundheit und Verbraucherschutz hat die Lebenshilfe Neunkirchen der Familie ermöglicht, in einem Appartement in der Wohnstätte mit einer Vielzahl von Hilfsangeboten zusammenzuwachsen. "Das Landesjugendamt hat eine Gefährdung für das Wohl des Kindes ausgeschlossen, deshalb konnten wir trägerübergreifend den landesweit einmaligen Versuch wagen", sagt Jürgen Müller, Geschäftsführer der Lebenshilfe Neunkirchen.

"Die Eltern sind an ihren Aufgaben kontinuierlich gewachsen, sodass die Familie jetzt in eine Wohnung in Elversberg umziehen kann, wo sie natürlich weiter intensiv betreut wird" - Jürgen Herrmann, der Bereichsleiter für stationäres Wohnen bei der Lebenshilfe Neunkirchen, freut sich über den Erfolg der Maßnahme. Lukas wird dort ab September den katholischen Kindergarten Herz Jesu besuchen. Stufe um Stufe habe sich die Familie weiterentwickelt. "Im Rahmen unserer Verantwortung haben wir versucht, nichts außen vor zu lassen, aber auch nicht überzubetreuen", weist Herrmann auf einen nicht immer einfachen Balance-Akt hin.

"Auch Menschen mit geistiger Behinderung haben das fundamentale Recht, Elternschaft auszuüben", unterstreicht Müller. Aufgrund ihrer Erfahrungen mit der Familie des kleinen Lukas möchte die Lebenshilfe Neunkirchen diese Betreuungsform als Standard-Angebot weiterentwickeln. "Der Bedarf einer begleitenden Elternschaft für geistig behinderte Menschen ist da, wir haben bereits mehrere Anfragen aus Zweibrücken, Pirmasens und Kaiserslautern", sagt Müller. Herrmann verweist auf Schätzungen, nach denen in Deutschland mehr als 1000 Menschen mit geistiger Behinderung Eltern geworden sind.

"Manche Kinder müssen verarbeiten, dass ihre Eltern alkoholkrank oder psychische Probleme haben, andere müssen verkraften, dass ihre Eltern geistig behindert sind", erläutert der Leiter der Kinderhilfe bei der Lebenshilfe Neunkirchen, Günther Adolph, einen für ihn sehr wesentlichen Gesichtspunkt. Es gehöre zum Leben, sich mit den Schwächen der Eltern auseinanderzusetzen. Die Entwicklung des Dreijährigen verläuft nach Adolphs Ansicht sehr positiv: "Der Junge ist normal entwickelt, sehr munter und interessiert."

Nach seiner Geburt war Lukas sechs Wochen bei Pflegeeltern untergebracht, lebte dann mit seiner Mutter ungefähr ein Jahr im "Mutter-Kind-Haus" des Hospitals. "Das war eine schwierige Zeit", erinnert sich Daniel Rebele. Er konnte sein Kind und dessen Mutter immer nur am Wochenende besuchen. "Für uns beide war klar, dass wir mit dem Kleinen zusammenziehen wollten", sagt Jennifer Fritz. Dabei wusste sie genau wie der Vater, dass sie erst noch lernen mussten, mit dem Kind umzugehen. "Die Eltern hatten ganz klar das Ziel, sich ihrer Verantwortung zu stellen und dazuzulernen", unterstreicht Jürgen Müller. Deshalb habe sich die Lebenshilfe Neunkirchen bereit erklärt, das Projekt zu begleiten und all ihre Kompetenzen einzubringen. Vorrangiges Ziel sei gewesen, die Erziehungsfähigkeit der Eltern auszubauen. Einmal pro Woche beschäftigt sich Petra Frank, eine Mitarbeiterin der Frühförderung, mit dem Jungen, der bis zum Wechsel in den Kindergarten ganztags in der Kindertageseinrichtung des Familien- und Nachbarschaftszentrums in Neunkirchen betreut wird. "Dort haben wir uns sehr wohl gefühlt", sagt Jennifer Fritz, die dort auch Elterndienste übernimmt.

"Wie man die Flasche macht, wie man das Kind wickelt, was man tun muss, wenn die Zähne kommen", antwortet die 20-Jährige auf die Frage, was sie und ihr Lebensgefährte in den vergangenen beiden Jahren gelernt haben. Auch Daniel Rebele findet, dass ihn sein Sohn verändert hat: "Man denkt nicht nur an sich, sondern vor allem daran, dass es Lukas gut geht", sagt er und nach einer kurzen Pause, "... und gibt nicht mehr so viel Geld für Schnickschnack aus." Alle seien an ihren Aufgaben gewachsen, findet Jürgen Müller.

Seinen dritten Geburtstag feierte Lukas mit seinen Eltern und anderen Verwandten in der Wohnstätte Altseiterstal. Die 23 anderen Bewohner haben den Jungen in ihr Herz geschlossen. "Wer sich artikulieren kann, fragt oft, wie es dem Kind geht", erzählt Herrmann. "Lukas kennt sie alle mit Namen", sagt seine Mutter stolz.

In der Wohnstätte kümmern sich die Eltern selbst um ihren Haushalt. Unterstützt werden sie bei allen Fragen von der Kinderkrankenschwester Francesca Notarrigo, die die Lebenshilfe mit finanzieller Unterstützung des Kreisjugendamtes eigens für die Familie eingestellt hat. "Lukas isst am liebsten Spaghetti Bolognese", verrät die Mutter. Damit sie mehr Zeit für die Versorgung ihrer Familie hat, bekam sie die Möglichkeit, im Zentrum für Integration und berufliche Bildung (ZIB) auf eine Halbtagsstelle zu wechseln. Auch bei geistig behinderten Müttern stelle sich die Frage nach der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, betont Müller. "Die Eltern sind an ihren Aufgaben kontinuierlich gewachsen."

Jürgen Herrmann, Bereichsleiter für stationäres Wohnen bei der Lebenshilfe Neunkirchen

Hintergrund

Jennifer Fritz und Daniel Rebele haben das Sorgerecht für Lukas. Die Eltern selbst haben nach Auskunft von Jürgen Herrmann von der Lebenshilfe allerdings eine gesetzliche Betreuerin, zuständig für Aufenthaltsbestimmungsrecht, Gesundheits- und Vermögensfürsorge. Obwohl es sich bei den Eltern um "Grenzfälle zur Lernbehinderung" (Herrmann) handele, sei klar: "Sie werden nie die Erziehungsfähigkeit erlangen." Eine intensive Betreuung sei stets notwendig. Und: "Das Projekt kann auch scheitern", so Herrmann. sa

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