Wenn Pillen Frauen süchtig machen
Berlin. Frauen bekommen mehr süchtig machende Medikamente und sterben häufiger am Herzinfarkt als Männer: Mit diesen beunruhigenden Ergebnissen schlagen Forscher im Auftrag der größten deutschen Krankenkasse Barmer GEK Alarm. Schon seit längerem wird in der Fachwelt mangelnde Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse der Frauen in der Medizin-Versorgung diskutiert
Berlin. Frauen bekommen mehr süchtig machende Medikamente und sterben häufiger am Herzinfarkt als Männer: Mit diesen beunruhigenden Ergebnissen schlagen Forscher im Auftrag der größten deutschen Krankenkasse Barmer GEK Alarm. Schon seit längerem wird in der Fachwelt mangelnde Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse der Frauen in der Medizin-Versorgung diskutiert. Nun rückt das Problem in den Fokus.Schon 2004 deckte eine Enquetekommission in Nordrhein-Westfalen Versäumnisse im Gesundheitswesen auf, die für Frauen tödlich sein können. Zu wenig bekannt - so hieß es im Abschlussbericht - sei etwa, dass sich ein Herzinfarkt bei Frauen oft nicht in Schmerzen in der Brust und in Luftnot äußere, sondern in Erschöpfung, Erbrechen, Übelkeit. "Dies ist ein wesentlicher Grund dafür, dass Herzinfarkte bei Frauen später erkannt werden und dass es im Durchschnitt deutlich länger dauert, bis Frauen mit Herzinfarkt sachgerecht behandelt werden."
Der nun veröffentlichte Barmer GEK Arzneimittelreport 2012 deutet auf nur geringe Fortschritte hin. Wenn eine Frau einen Herzinfarkt überlebt hat, wird sie demnach zwar gleich gut mit Medikamenten weiterbehandelt wie ein Mann. Trotzdem hätten Frauen weiter ein erhöhtes Risiko, gar nicht mehr eine angemessene Therapie zu erhalten, weil vorher zu viel Zeit verstreiche.
Insgesamt machen viele Ärzte augenscheinlich große Unterschiede beim Verordnen von Pillen. "Auffällige Unterschiede sind vor allem im Bereich der Antidepressiva und Hypnotika festzustellen", so der Report. "In diesen Bereichen bekommen Frauen zwei- bis dreimal mehr Arzneimittel verordnet als Männer." Und das, obwohl diese Mittel oft abhängig machen - und bei Frauen Medikamente oft sogar stärker anschlagen.
Weniger Gewicht, ein anderer Hormonhaushalt, ein höherer Körperfettanteil - obwohl Frauen typischerweise andere Anlagen haben als Männer, sind die Verordnungshinweise vielfach gleich. Viele Mittel wirken bei Frauen dann stärker - auch bei den Nebenwirkungen.
Beispiel Antidepressiva. Für eine bestimmte Art dieser Mittel, den sogenannten Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmern, fanden die Autoren des Barmer-GEK-Reports heraus, dass die Ärzte den Frauen diese weit länger verschreiben. Auch die oft wohl zu sorglose Gabe von Beruhigungsmitteln besorgt die Forscher. "Aus all dem kann der Schluss gezogen werden, dass die Medikamentenabhängigkeit ,weiblich' ist."
Was ist zu tun? Ein vom Robert-Koch-Institut herausgegebener Bericht über "Gesundheit von Frauen und Männern in mittleren Lebenslagen" deutete schon 2005 auf unterschiedliche Herangehensweisen der Ärzte hin, "wodurch möglicherweise die gleichen Symptome bei Frauen und Männern unterschiedlich erklärt, diagnostiziert und behandelt werden". Frauen könnten also wegen Rollenklischees häufiger als psychisch, Männer als körperlich belastet eingestuft werden.
Der Autor des Barmer-GEK-Reports, Gerd Glaeske vom Zentrum für Sozialpolitik Bremen, weist darauf hin, dass Frauen meist "offener mit ihren psychischen Beschwerden umgehen". Und er kritisiert, dass Frauen oft in die Abhängigkeit hineintherapiert würden. "Anstatt dass die Ärzte ihnen zu einer psychologischen Behandlung raten, verschreiben sie ihnen zu oft Arzneimittel", so Glaeske. Auch gegenüber Schmerzmitteln seien Frauen im deutschen Gesundheitssystem anfälliger. Oft fange die Verordnung dieser Mittel bereits in Jugendjahren an, wenn die ersten Menstruationsbeschwerden einsetzten. Ein Grund für die Probleme der Frauen mit Arzneimitteln sei schlicht: "Frauen haben mehr Arztkontakte." Sie gingen öfters in die Praxis.
Der Gesundheitsforscher fordert, Patientinnen vor riskantem Pillenverordnen zu schützen: "Wir brauchen eine Negativliste, welche Ärzte verlässlich über Wirkstoffe informieren, die bei Frauen gefährliche Effekte auslösen können."
Doch schon vor Praxis und Klinik könnten Änderungen ansetzen. Im vergangenen Jahr zielte eine Anfrage der Grünen-Fraktion im Bundestag darauf ab, ob Patientinnen bei Zulassung und Prüfung von Arzneimitteln ausreichend berücksichtigt werden. Die Grünen-Gesundheitsexpertin Birgitt Bender kam zum Ergebnis: Werden sie nicht. Die zuständigen Behörden erfassten den Bereich nicht ausreichend.
Hintergrund
Schlafstörungen, innere Unruhe, Ängste: Solche Probleme werden oft mit Psychopharmaka behandelt. Der Schritt in die Sucht ist bei diesen Medikamenten manchmal nur ein kleiner. "Patienten sollten ihren Arzt immer fragen, welche Nebenwirkung ein Medikament macht, egal welches es ist", sagte Rüdiger Holzbach, Experte für Medikamentenabhängigkeit der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS). "Bei Medikamenten, deren psychische Wirkung schnell eintritt, besteht immer das Risiko einer Abhängigkeit."
Zu Psychopharmaka zählen etwa Schlafmittel, Tranquilizer und Antidepressiva. Kritisch werten Gesundheitsexperten auch, dass immer mehr der Arzneimittel mit Abhängigkeitspotenzial auf Privatrezept verordnet werden, die gesetzlich Versicherten sie also selbst bezahlen müssten. Denn Privatrezepte sind der Kontrolle der Krankenkassen und Ärztekammern entzogen und können dadurch eine Suchtentwicklung kaschieren. dpa