Wenn klassische Normen aufbrechen
Berlin. Bei der Familie Thomas Mann hatten die Liebschaften der Kinder den Spitznamen "die Eulen". Die Eltern sollen so tolerant gewesen sein, dass sie einfach ein Gedeck mehr am Tisch auflegten, falls Tochter Erika eine Eule mitbringen wollte. Ähnlich pragmatisch ist heutzutage das politische Protokoll
Berlin. Bei der Familie Thomas Mann hatten die Liebschaften der Kinder den Spitznamen "die Eulen". Die Eltern sollen so tolerant gewesen sein, dass sie einfach ein Gedeck mehr am Tisch auflegten, falls Tochter Erika eine Eule mitbringen wollte. Ähnlich pragmatisch ist heutzutage das politische Protokoll. Längst ist auf Einladungen nicht mehr vom Ehemann oder der Ehefrau die Rede, sondern vom "Partner". Das vermeidet den Eiertanz, sowohl für Unverheiratete als auch für Schwule und Lesben.Zwei Nachrichten zeigten vergangene Woche, dass der gesellschaftliche Wandel die Staatsspitzen erreicht hat. Der frisch gewählte französische Präsident François Hollande, der morgen sein Amt antritt, und die neue "Première Dame", Valérie Trierweiler, sind nicht verheiratet - ebenso wenig wie Bundespräsident Joachim Gauck und seine Lebensgefährtin Daniela Schadt. Und dann erklärte US-Präsident Barack Obama, Schwule und Lesben sollten genauso wie heterosexuelle Paare heiraten können.
Auf Schloss Bellevue spielt der Familienstand keine Rolle. "Für das Protokoll des Bundespräsidenten ist das nicht entscheidend", sagt ein Sprecher. Auch die britische Botschaft nutzt die diplomatische Formulierung "mit Partner", wenn sie zum Empfang zum 60. Thronjubiläum der Queen einlädt.
So modern Deutschland sein mag: Trotzdem gab es eine Debatte darüber, dass Gauck nicht von seiner Ehefrau Gerhild geschieden ist und mit seiner Partnerin seit Jahren in "wilder Ehe" lebt. Als CSU-Politiker Norbert Geis empfahl, Gauck möge seine Lebensverhältnisse ordnen, bekam er aber heftigen Gegenwind.
Obamas "mutiger Schritt"
Die Wirklichkeit spiegelt sich in den Statistiken: 1996 gab es in Deutschland noch 1,8 Millionen "nicht-eheliche Lebensgemeinschaften" - 2010 waren es 2,6 Millionen. In Frankreich lebte zuletzt jedes vierte Paar ohne Trauschein zusammen. Hollande lehnt es ab, unter öffentlichem Druck Trierweiler zu heiraten, auch wenn der Sozialist die Reporterin die "Frau meines Lebens" nennt. Auf Ehe-Absichten angesprochen drücke er sich ähnlich vage aus wie auf Fragen zur Euro-Rettung, fand die "Süddeutsche Zeitung".
Von Gauck war nicht zu hören, dass er an seinem Familienstand etwas ändern will. In einer Emnid-Umfrage fanden dies 80 Prozent der Deutschen in Ordnung. Die Gaucks darf man sich als tolerante Familie vorstellen: "Die Verhältnisse sind geordnet. Nur eben anders. Warum soll nicht jeder Mensch für sich entscheiden, was für seine Familie das Richtige ist?", sagte Tochter Gesine Lange laut "Hamburger Abendblatt".
Nach Christian Wulff, der zweimal geheiratet hat, ist Gauck wieder ein Bundespräsident mit einer Familien-Biografie, die nicht der klassischen Norm entspricht. Und der ehemalige Pastor hat vier Kinder, genauso wie Hollande - mit Trierweiler zusammen hat der Franzose sogar sieben.
Ebenso wie solche Patchwork-Familien sind homosexuelle Paare in der Politik selbstverständlicher geworden. Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) und sein langjähriger Freund Jörn Kubicki sind das Paradebeispiel. Dass sehr viel darüber geschrieben wurde, obwohl es so normal sein soll, steht auf einem anderen Blatt. Guido Westerwelle hatte sein großes Outing zwar erst 2004 und in einem Alter, in dem andere eine Weitsichtbrille brauchen. Aber immerhin ist der 50 Jahre alte FDP-Mann der einzige Außenminister weltweit, der öffentlich zu seiner Homosexualität steht. Seinen Partner, den Sportrechte-Manager Michael Mronz, heiratete er 2010.
Dass Obama nach Jahren des Wischiwaschi-Kurses jetzt für die Homo-Ehe plädiert, ist für Westerwelle ein "mutiger Schritt". Auf Englisch fand er die Losung: "It's okay to marry gay" - "Es ist in Ordnung, schwul zu heiraten".
Meinung
Eine Selbstverständlichkeit
Von SZ-RedakteurinStefanie Marsch
Jeder soll nach seiner Façon selig werden - ob "wilde Ehe", Patchwork-Familie oder eine Ehe unter Homosexuellen. Es ist kaum zu glauben, wie lange es gedauert hat, bis diese Selbstverständlichkeit auch in der Welt der Politik angekommen ist. Bis dort anerkannt wurde, was jeder normale Bürger schon längst für sich in Anspruch nehmen darf.
Joachim Gauck ist kein schlechterer Vertreter unseres Landes, weil er ohne Trauschein in einer Beziehung lebt. Guido Westerwelle wird als Außenminister nicht weniger integer, weil er einen Mann liebt und keine Frau. Im Gegenteil: Beziehungen wie diese sind ein Spiegel unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit. Und Menschen, die in dieser Wirklichkeit leben, können auch besser für die Menschen entscheiden und eintreten, die sie repräsentieren.