Wenn Fußball wichtiger ist als Politik

Berlin · Eine Grunderfahrung der Politik lautet: Wenn die Nation Fußball schaut, lassen sich unangenehme Dinge leichter verabschieden. Jetzt, da Deutschland gerade in WM-Stimmung kommt, also wieder? In jedem Fall nutzt mancher Politiker die Chance, um sich in Szene zu setzen.

Für Angela Merkel ist es am Dienstag genauso gut gelaufen, wie am Tag zuvor für die Nationalmannschaft gegen Portugal - Sieg auf ganzer Linie. Im Fernsehen war die jubelnde Kanzlerin in jedem Bericht über das Spiel zu sehen. Und ihr "Selfie"-Foto mit Lukas Podolski wurde millionenfach aufgerufen. Merkel, das Maskottchen der DFB-Elf, ist wieder allgegenwärtig, wenn die Elitekicker bei der WM in Brasilien auflaufen. Von wegen Sport und Politik gehören nicht zusammen.

Seit der Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland begleitet sie das Team auf Schritt und Tritt. Die 59-Jährige gehört zum Inventar der Mannschaft, inzwischen rufen die Fans schon "Angie, Angie", wenn sie auf der Stadiontribüne auftaucht. Wo doch sonst jeder höhere Funktionär oder gewichtige Staatsmann gnadenlos ausgepfiffen wird. Merkel hat sich jedoch einen Ruf erarbeitet, von dem andere Politiker nur träumen können - sie gilt als Glücksbringerin, als Mutter der Kompanie. Das Land freut sich, wenn es die sonst so kühle Physikerin wie jeden anderen Fan aus dem Sitz reißt, mit aufgerissenem Mund und den rechtwinklig nach oben gereckten Armen.

Merkel geht auch dorthin, wo es wehtun kann. In ihrem Fall ist es das Allerheiligste für einen Fußballer, die Mannschaftskabine. Dort hocken die halb nackten und schwitzenden Männer. Bundestrainer Joachim Löw behauptet: "Wir freuen uns immer, wenn sie in die Kabine kommt." Da ist wohl was dran. Denn das Löw-Team ist auch ihr Team, sie hält seit der WM 2006 engen Kontakt zum DFB-Tross. Inmitten von Badeschlappen, Handtüchern und grinsenden Kickern steht sie dann da wie die Kümmerin. Geknipst nach dem 4:0-Sieg gegen Portugal von ihrem Hoffotografen. Das muss schon sein. Alle lachen, alle freuen sich, auch die Ersatzspieler. "Poldi" bekommt von "Mutti" sein "Selfie". Das ärgert wiederum die Opposition. Der grüne Konstantin von Notz, Mitglied des NSA-Untersuchungsausschusses, twitterte am Montag über das Foto: "Das hier ist billig. Ein Selfie von Merkel mit Edward Snowden - das würde mich beeindrucken." Die Grünen wieder mal als Spaßbremse, was will die Kanzlerin mehr?

Pro forma hat Merkel am Montag auch noch die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff getroffen. So ein Flug nach Brasilien ist schließlich teuer, die Regierung hüllt sich dazu lieber in Schweigen. Zum Finale will sie wiederkommen. Doch die Kanzlerin muss aufpassen: Kickt das Team mal schlecht, kann das auch schlecht für sie sein. Denn wer sich mit dem Fußball verbündet, könnte in den Sog seiner Misserfolge geraten. Zu Zeiten Helmut Schmidts und Helmut Kohls war das so. Da waren die Politiker wie die Kicker, defensiv, unkreativ, rumpelig. Reformstau und Abschlussschwäche auf beiden Seiten. Davon ist die Republik aber im Moment weit entfernt. Politisch und fußballerisch. Glück für Merkel.

In Berlin heißt es jetzt, die Regierung werde im Schatten der Fußballeuphorie rasch ein paar unliebsame Gesetze durchpauken. Im Sommermärchen 2006 wurde die Mehrwertsteuer erhöht, zur WM 2010 der Krankenkassenbeitrag. 2012, während des Halbfinales Deutschland gegen Italien bei der Europameisterschaft, wurde ein neues Meldegesetz vom Bundestag verabschiedet. Es musste später wieder einkassiert werden musste. Und 2014? Ende Juni ist Haushaltswoche. Dann gilt es, genau hinzuschauen. Lebensversicherungen: Die neuen Regeln, mit denen die Ausschüttungssummen für Kunden gekappt werden, könnten noch während der WM beschlossen werden. Zunächst ist der Bundestag an der Reihe, dann der Bundesrat - wahrscheinlich am 11. Juli, zwei Tage vor dem Finale. Für Kunden, deren Vertrag bald endet oder die ihre Police demnächst kündigen, kann das kräftige Einbußen bedeuten.

Ökostrom-Gesetz: Für Solarstrom-Fans könnte sich während der WM Unheil zusammenbrauen. Noch vor dem Finale sollen Bundestag und Bundesrat die Ökostrom-Reform beschließen. Die meisten Details, etwa zu Förderkürzungen bei Windstrom an Land, sind unstrittig. Aber jetzt kracht es hinter den Kulissen. Wegen steigender Strompreise nutzt eine steigende Zahl von Unternehmen und Bürgern den produzierten Strom selbst - damit fallen sie als Zahler der im Strompreis enthaltenen Netzkosten, Abgaben und Umlagen aus. Daher sollen - anders als geplant - auch alle Bürger, die sich künftig eine kleine Solaranlage aufs Dach setzen und Strom selbst nutzen, einen "Soli" von 2,5 Cent je Kilowattstunde zahlen.

Pkw-Maut: Bis Anfang Juli - wenn gerade die K.o.-Spiele bei der Fußball-WM in Gang sind - will Verkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU ) sein Konzept für eine Pkw-Maut vorlegen - eine Vignette soll es werden, für etwa 100 Euro pro Jahr. Gelten muss sie für alle Pkws, weil das EU-Recht eine Diskriminierung wegen der Nationalität untersagt. Über die Kfz-Steuer sollen inländische Fahrer so entlastet werden, dass sie unterm Strich nicht mehr bezahlen müssen. Wie das klappen soll, ist die große Frage. Es ist ein Baby der CSU : Ihr geht es darum, dass ausländische Autos für deutsche Autobahnen zahlen, wie es deutsche Urlauber in Italien oder Österreich auch tun müssen.

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