Wenn die Kunden zur Belastung werden

Saarbrücken. Schon seit Wochen tragen die Schaufensterpuppen keine Perücken mehr, dafür sackartige rote Nachthemden: kahlköpfige Kranke in geplünderter Deko-Leere. Chaotisch mit Rabatt-Schildern zugekleistert, haben sie sich in Plakatwände verwandelt, die nur von der Not eines Totalausverkaufs künden. Längst ist hier nicht mehr Sinn am Zug

Saarbrücken. Schon seit Wochen tragen die Schaufensterpuppen keine Perücken mehr, dafür sackartige rote Nachthemden: kahlköpfige Kranke in geplünderter Deko-Leere. Chaotisch mit Rabatt-Schildern zugekleistert, haben sie sich in Plakatwände verwandelt, die nur von der Not eines Totalausverkaufs künden. Längst ist hier nicht mehr Sinn am Zug. Die Vermarktung des Warenbestandes der 22 Sinn-Filialen, die bundsweit schließen müssen, hat die Firma Gordon Brothers übernommen. In 25 Häusern läuft die Verkaufs-Show weiter - mit weniger Personal. So auch in Trier.

In Saarbrücken dagegen hat man derweil die Musik abgeschaltet, die Toiletten sind dichtgemacht worden. Die oberen drei Etagen liegen im Dunkeln - gespenstische Räume für Regal-Gerippe und leere Vitrinen: Alle Möbel müssen raus.

Seit November wurde das Haus von oben nach unten "entkernt". Mittlerweile hat das Reste-Angebot des imposanten 6500-Quadratmeter-Hauses auf einer Etage im Erdgeschoss Platz. Die ehemalige Strumpfabteilung passt in drei Ständer. "Wir bedienen schon lange nicht mehr. Wir räumen nur noch um und auf," sagt Annegret Z. (56), offensichtlich fleißig und tapfer. Von den Verwüstungen, die die Kunden angeblich anrichten sollen, keine Spur. Denn was ist für Annegret das Schlimmste in dieser Endphase? "Die Kunden." 38 Jahre war sie bei Sinn. Jetzt fremdelt sie. Weil die Klientel gewechselt hat. Wie die Hottentotten benähmen sich manche. "Wir sagen nichts mehr", sagt auch Rosi B. (55). "Soll ich mich vielleicht noch verprügeln lassen?" Der Sicherheitsdienst sei längstens gekündigt. Vor allem samstags beobachtet sie Forbacher Gangs: "Dann ist Party." Galgenhumor hilft. Auch wenn in den Umkleidekabinen niedergetrampelte Ware als Teppichboden dient. Kürzlich hätte eine Kollegin davon ein Foto gemacht. Es sollte an die Presse gehen, unter der Überschrift: "Sinn Leffers, ein renommiertes Haus." Zynismus schützt bekanntlich vor Schmerz. Das Foto kam nie in der Redaktion an. Zum Treffen im Saarbrücker Gewerkschaftshaus erscheint nur eine einzige Verkäuferin: Betriebsrätin Barbara Reyinger (55) aus St. Ingbert ist als Einzige bereit, ihren Namen zu nennen. Wer Arbeit suche, müsse vorsichtig sein, meint sie. Verdi-Gewerkschaftssekretär Günter Bauer hat eine andere Erklärung: "Die Verbundenheit mit dem Unternehmen ist ungeheuer." Und das, obwohl eine Schließung selten so viele "Problemfälle" wie diese produziere. 50 Prozent der 148 Beschäftigten sind seiner Schätzung nach älter als 50 Jahre: seit Monaten arbeitslos gemeldet ohne Aussicht auf einen neuen Job, zu jung, um die Rente zu beantragen. Gerti M. (54) hat acht Bewerbungen geschrieben. Sie scheut direkte Vorstöße, seit sie gehört hat, wie man auf der Bahnhofstraße mit Kolleginnen verfährt: "Wir können den Namen Sinn nicht mehr hören", sagen die. Jeden Tag suche jemand anders Arbeit.

Wutgeschrei würde man erwarten. Schimpfkanonaden über missbrauchte Loyalität. Schließlich hat die Belegschaft 2006 und 2008 wieder einem Sanierungs-Tarifvertrag zugestimmt, hat auf Einmal-Zahlungen, Urlaubs- und Weihnachtsgeld verzichtet - bei einer Beschäftigungsgarantie bis 31. 12. 2009. Alles Makulatur. "Bei einer Insolvenz werden die Beschäftigten zu Freiwild", sagt Verdi-Mann Bauer.

Doch das erwähnt nur er. Eine Einzige, Jüngere, spricht über Geldsorgen, ihren Mann, der ausgerechnet jetzt zum Pflegefall wurde. Wo lassen alle anderen Frauen ihre Existenzangst? Die Phase der tränenreichen Ausbrüche hätten sie längst hinter sich, erklärt Barbara Reyinger die Gefasstheit. Zukunfts-Angst trägt hier nicht die Fratze des Konsumverzichts und sozialen Abstiegs, sondern tritt insbesondere bei den Singles als Horrorgestalt der Leere auf. "Topflappen häkeln ist nichts für mich", meint Monika W. (54). "Ich bin seit 40 Jahren berufstätig - und plötzlich wartet niemand mehr auf mich." Sie will was Ehrenamtliches anfangen oder in VHS-Kursen "was für den Kopf tun". Sie zählt den schwindenden Tages-Vorrat tröstlicher Sinn-Gemeinschaft: "Geteiltes Leid ist halbes Leid." Was kommt nach dem 28. Februar? "Wir verlieren nicht unsere Arbeit, sondern eine Familie", sagt Barbara Reyinger.

Die Nostalgie bleibt den Kunden vorbehalten. Sie bauen Sinn verbal ein Denkmal, sprechen über anständige Ware zu anständigen Preisen, Top-Beratung, hochwertige Fachabteilungen, die gediegene, ruhige Atmosphäre, den Super-Kuchen im Café. Alles Krokodilstränen! Meint Rosi B. Manche "Stammkunden" suchten das Café heute noch, obwohl es Jahre geschlossen hat. Manchmal weise sie die Leute auch schon mal zurecht: "Von der Bluse, die Sie vor 20 Jahren hier gekauft haben, konnten wir nicht überleben."

Danach steht Rosi wieder mit soldatischen Pflichtgefühl inmitten einer Rudi's Resterampe. "Wir sind Profis!", sagt Barbara Reyinger. Das Personal hat dem Haus die letzte Ehre erwiesen. Ob es in Würde sterben darf, entscheiden die Kunden.

Hintergrund

Im August 2008 meldete Sinn Leffers (Hagen) Insovenz an. Anfang Oktober wurde bekannt, dass bundesweit 24 von 47 Filialen (4100 Mitarbeiter) schließen müssen, darunter die drei saarländischen Häuser (Neunkirchen, St. Ingbert, Saarbrücken) und Zweibrücken. 1200 Mitarbeiter verlieren ihre Arbeit, 148 im Saarland. Bereits 2006 hatte Sinn Leffers einen ersten Sanierungsplan beschlossen.

 Kahlköpfig im roten Sackkleid: Schaufensterpuppen (links) sind traurige Zeugen des Ausverkaufs bei Sinn Leffers in Saarbrücken. Bald ist die Filiale dicht. Foto: Iris Maurer

Kahlköpfig im roten Sackkleid: Schaufensterpuppen (links) sind traurige Zeugen des Ausverkaufs bei Sinn Leffers in Saarbrücken. Bald ist die Filiale dicht. Foto: Iris Maurer

 In Saarbrücken ist Sinn seit 120 Jahren bekannt. Foto: Eclair

In Saarbrücken ist Sinn seit 120 Jahren bekannt. Foto: Eclair

Geschichte: 1878 gab es bereits ein Wäschegeschäft Sinn in Saarbrücken. Nach dem Krieg wurde das Kaufhaus Gebrüder Sinn in der Bahnhofstraße gebaut. In den 70ern integrierte die Sinn AG (Köln) das Haus mit den Filialen in Neunkirchen und St. Ingbert). Seit 1988 wurden sie zusammen mit der Firma Leffers von Karstadt gemanagt. Später war man wieder eigenständig, aber mit branchenfremden Investoren. ce

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