Wenn die Grenze ihren Schrecken verliert
Tucson. Manchmal können Väter ganz schön nerven. Spöttisch macht Leslie González nach, wie ihr Vater sie immer warnt. Geh nicht raus, bleib lieber zu Hause. Musst du wirklich noch in die Bibliothek? Was ist, wenn die Polizei dich anhält? Theatralisch verzieht sie ihr Gesicht zu einer sorgenvollen Grimasse. Aber irgendwie kann sie ihn ja verstehen
Tucson. Manchmal können Väter ganz schön nerven. Spöttisch macht Leslie González nach, wie ihr Vater sie immer warnt. Geh nicht raus, bleib lieber zu Hause. Musst du wirklich noch in die Bibliothek? Was ist, wenn die Polizei dich anhält? Theatralisch verzieht sie ihr Gesicht zu einer sorgenvollen Grimasse. Aber irgendwie kann sie ihn ja verstehen. Er spreche ja aus Erfahrung, nimmt sie den Vater doch noch in Schutz. Seine Haut sei eben ziemlich dunkel, anders als die der Mutter, die aus Barcelona stammt und aussieht wie die Anglos, die weißen Amerikaner. Anglos werden von Polizeistreifen nicht schikaniert, Braunhäutige dagegen schon. Und weil Leslie den Teint des Vaters geerbt hat, macht er sich Sorgen um sie.
"Ich sehe aus wie eine Mexikanerin. Das reicht schon, um sich unsicher zu fühlen in Arizona", sagt die 19-jährige Medizinstudentin. Ein restriktives Gesetz, die Senatsnovelle SB 1070, erlaubt der Polizei, bei Kontrollen auch den Aufenthaltsstatus zu überprüfen, wenn der begründete Verdacht besteht, dass sich jemand illegal im Land aufhält. Begründeter Verdacht ist etwas sehr Subjektives, hat Leslie gelernt. Einmal fuhr sie mit Freunden im Auto durch Tucson, zu schnell, sie wurden gestoppt. "Ich saß hinten, und trotzdem hatten sie mich auf dem Kieker. Weil ich die Dunkelste war."
Zwar hat ein Richter zentrale Passagen der diskriminierenden Vorlage gekippt. Doch es läuft ein Berufungsverfahren, vom Tisch ist die Novelle 1070 noch lange nicht. Die abschreckende Wirkung, die sie entfalten soll - in der Praxis ist sie längst eingetreten. Nach Schätzungen einer mexikanischen Bank haben über hunderttausend Hispanics Arizona seit dem Frühjahr den Rücken gekehrt.
Leslie González will nicht weg. Sie hofft auf den Dream Act, auf ein Ende ihres Lebens im Schwebezustand. Menschen, die ohne Papiere vor dem 16. Lebensjahr in die USA kamen, besagt die Gesetzesnovelle, sollen legal dort bleiben dürfen. Vorausgesetzt, sie sind seit mindestens fünf Jahren im Land, haben nie eine Straftat begangen und studieren an einem College oder gehen zum Militär. Im Grunde ist der Dream Act eine kleine Einwanderungsreform, ein Ersatz für den großen Wurf, den Barack Obama im Wahlkampf versprach, der aber inzwischen so gut wie aussichtslos ist. Solange die Wirtschaft boomte, waren Immigranten willkommen. Bei zehn Prozent Arbeitslosigkeit ist die Stimmung nun umgeschlagen. Eine umfassende Reform würde schätzungsweise elf Millionen Illegale - es gibt nur Dunkelziffern - aus der Grauzone zwischen Geduldet-Werden und Gehen-Müssen holen. Beim Dream Act, der im Kongress gerade zur Debatte steht, geht es lediglich um einige Hunderttausend. Aber auch der droht am Widerstand der erstarkten Republikaner zu scheitern.
Dabei ist der Abgeordnete Luis Gutierrez, aus Puerto Rico stammend, heute zu Hause in Chicago, von Kirche zu Kirche getingelt, um für das Gesetz zu werben. Myrna Orozco, eine 20-Jährige aus Kansas City, hat Gleichaltrige zum Blutspenden aufgerufen. Die Geste sollte zeigen, dass junge Latinos dem Gemeinwohl sehr wohl verpflichtet sind. Was kann solidarischer sein als Blut zu spenden? Auf der Gegenseite faxte "Numbers USA", eine Anti-Immigranten-Plattform, 650 000 Unterschriften an die Parlamentsbüros in Washington, um den Dream Act zu stoppen.
Leslie González war drei Monate alt, als ihre mexikanischen Eltern beschlossen, ihr Glück im Norden zu versuchen. Die Mutter war Hotelmanagerin, der Vater betrieb ein Baugeschäft. Die Eltern der Mutter mochten den Schwiegersohn nicht, was sie ihn spüren ließen. Es muss ein Grund gewesen sein, um der hierarchischen Enge der alten Heimat zu entfliehen. Jenseits des Rio Grande lockte die große Freiheit, auch im Privaten. Damals war das alles noch ein Kinderspiel: die Grenze offen, kaum Wachtürme, kaum Zäune, wie sie heute meilenweit den Weg versperren.
Im März 1992 ließ sich das junge Paar in Los Angeles nieder. Ein paar Monate früher, und Leslie wäre in L.A. zur Welt gekommen, nicht in Mexiko. Dann wäre sie Amerikanerin, so wie die elfjährige Yomira und der neunjährige Alfonso, ihre Geschwister, die sie ständig ermahnen muss, die Schule nicht schleifen zu lassen, nur weil keiner sie abschieben kann. Die beiden sind Citizens, Staatsbürger. Ein Wort, das für Leslie einhergeht mit Sicherheit, mit Bequemlichkeit. "Ich sag ihnen immer, okay, ihr seid Citizens, das kann nicht schaden. Aber bitte setzt euch trotzdem auf den Hosenboden."
Der Slang, die coole Art, das lässige T-Shirt, alles an dem Mädchen mit dem burschikos kurzen Haar verrät, wo es aufgewachsen ist. Leslie kennt Kalifornien, Nebraska, Arizona, die Bundesstaaten, in denen ihre Eltern auf der Jagd nach Jobs Station machten. In Mexiko war sie noch nie. Irgendwann will sie von Tucson nach Stanford wechseln, ins Silicon Valley, an eine der besten Universitäten des Landes. Und dann Chirurgin werden. Wenn sie denn bleiben darf. "Ich sehe aus wie eine
Mexikanerin.
Das reicht schon, um sich unsicher zu fühlen in Arizona."
Leslie González
Hintergrund
Die illegalen Einwanderer in den USA arbeiten auf Obstplantagen und Baustellen, putzen Wohnungen, hüten als Nannys die Kinder betuchter Familien. Als billige Arbeitskräfte sind sie praktisch unverzichtbar, ohne dass sie Anspruch auf Sozialleistungen haben. Um den Schwebezustand zumindest für ihre noch in der alten Heimat geborenen Kinder zu beenden, will das Weiße Haus mit dem Dream Act so etwas wie eine kleine Einwanderungsreform vorziehen, bevor man irgendwann Anlauf nimmt zu einem größeren Wurf. Das Pentagon, die Armee und die Handelskammern befürworten die Gesetzesvorlage. Abgelehnt wird sie von Republikanern. her