Wenn der Tony mit der Maria …

Saarbrücken · Gestern startete das Saarbrücker Staatstheater mit Schauspiel in die neue Spielzeit. Doch der Top-Hit folgt erst. Ab Oktober steht die „West Side Story“ auf dem Programm. Die verhängnisvoll Liebenden Tony und Maria sind Haupt-Werbeträger für Dagmar Schlingmanns Abschieds-Saison. Wir sind dem Liebespaar der Saison begegnet.

 Großes Gefühlskino: Michael Pflumm (Tony) und Herdís Anna Jónasdóttir (Maria) bei den Proben zur „West Side Story“. Foto: Rich Serra

Großes Gefühlskino: Michael Pflumm (Tony) und Herdís Anna Jónasdóttir (Maria) bei den Proben zur „West Side Story“. Foto: Rich Serra

Foto: Rich Serra

Sich Lieben, dass die Funken bis ins All fliegen? Shakespeare hat sich dieses Bild vor 400 Jahren ausgedacht. Wie Sterne stürzen die Liebenden Romeo und Julia ineinander. "Wir sind magisch", singen Tony und Maria im New-York-Musical von Leonard Bernstein und Jerome Robbins. "West Side Story ” ist die puertoricanische Anverwandlung des Shakespeare-Stoffes: ebenfalls romantischer als romantisch, rührender als rührend. 1957 trat das Stück nicht nur einen phänomenalen Siegeszug rund um die Welt an, sondern legte auch für die Gattung die Messlatte hoch - als Musiktheater-Tanzstück. 1991 sah man es zum letzten Mal am Saarländischen Staatstheater : Kurt Josef Schildknecht gab damit seiner ersten Spielzeit den nötigen Publikums-Rückenwind. Nachfolgerin Dagmar Schlingmann , die's bekanntlich nicht so mit dem Entertainment-Genre hat, setzte den Musical-Klassiker nun auf ihren Abschieds-Spielplan. Macht diese "West Side Story " sie unvergesslich, wenn sie 2017 nach Braunschweig wechselt?

Schlingmann möchte vorrangig gar nicht "mit dem Speck nach den Mäusen werfen", wie sie sagt. Nichtsdestotrotz dürften 23 Vorstellungen, die schon jetzt zu 50 Prozent verkauft sind, ihre Zuschauerbilanz noch einmal so richtig in die Höhe reißen. Die Intendantin erklärt, sie erfülle mit dieser Titelwahl auch "einen Wunsch der Theater-Belegschaft", die gerne öfter spartenübergreifend arbeiten würde. So treten denn alle 19 Ballett-Tänzer auf und singen, Opernsängerinnen tanzen, und das große Orchester spielt auf. Ballettchef Stijn Celis, der die Neuinszenierung übernommen hat, steht für die Verzahnung von Regie und Choreographie. Er verfährt nach der Maxime: Theater soll berühren, nicht nur beeindrucken. Also lässt er in minimalistischer Kulisse spielen, das hochaktuelle Thema Einwanderung und Banden-Kultur-Kampf holt er über Video-Projektionen herein. Überraschenderweise fokussiert er sich nicht auf die singulär, die Überallemaßen-Liebenden, er zielt auf ein gesellschaftliches Phänomen: "Junge Menschen sind immer sehr zerbrechlich", sagt er.

Vor drei Jahren hat Stijn Celis in Dresden eine sehr publikumswirksame "Romeo und Julia"-Version abgeliefert - und damit die Saarbrücker Theaterchefin erobert, die den "Geschichtenerzähler" sofort an ihr Haus engagierte. Nun vertraut Schlingmann ihm die "West Side Story " an, einen Stoff, der "fetter" kaum sein könne. "Er ist gespuckt für die Bühne", meint sie. Ein Fest? Nennen wir eine Bedingung: Das Liebespaar muss so magnetisch sein, dass es uns über alle Vorbehalte gegenüber Herzschmerzkitsch hinweg saugt. Wechsel in den Probensaal. Die Kostüm-Proben sind noch nicht angelaufen, die Premiere kommt erst am 1. Oktober. Tony und Maria stecken in ihren Alltags-Klamotten. Und man staunt, denn die die Sopranistin Herdis Anna Jónasdóttir - seit 2013/2014 im Saarbrücker Opernensemble - ist sowas von einer Blondine: klirrend blaue Augen, heller Teint, mädchenhafte Natürlichkeit. Ein Gegentyp zur Standard-Latino-Maria. Auf dem Plakat, das für die "West Side Story " wirbt, trägt Herdis eine rotbraune Perücke. Ob wir sie so auf der Bühne sehen werden, entscheidet die Gesamt-Optik der Produktion. Wenn es nur um Gefühle ginge, dann müsste alles genau so bleiben wie jetzt im Probensaal. So unverfälscht, gelöst und schlicht: die Liebe, eine Himmelsmacht, in ihrer ganzen Zartheit und Wucht. Wie eine Druckwelle überspült beim Song "One hand, one night" Innigkeit den Raum. Und wenn sich das Paar zur heimlichen Hochzeit trifft, macht's mächtig "Zoom", weil Eros ins Spiel gerät.

"Ich habe großes Glück mit meinem Tony", sagt Herdis. Und eigentlich will man das Klischee vom ach so idealen Gesangspartner, der immer der gerade aktuelle ist, gar nicht mehr hören. Doch dass sich Jonasdottir und Michael Pflumm ausnehmend gut verstehen, beglaubigen Beobachtungen. Sie scherzen, sie knuffen sich, sie stecken die Köpfe über den Noten zusammen. Wonnig. Für Pflumm, der als Gast engagiert wurde, ist es bereits der vierte Tony. Acht Marias hat er umarmt - Hauptrollen werden doppelt besetzt. Der schlaksige Tenor hat alle Anlagen zum träumerischen Soft-Lover. Er schmettert nicht, er schmachtet, liefert er eine bestürzend beseelte "Maria"-Version ab. Zuhause, sagt der verheiratete Pflumm, sei er so gar kein Chefromantiker. Vielleicht gefällt ihm deshalb der Tony auch so gut: "Er geht immer aufs Ganze und hat keine Angst, seine Gefühle zu zeigen." Jonasdottir hingegen mag auch privat den Liebes-Blitzschlag: "Es ist schön, wenn es Bam macht." Sie selbst habe schon gegen jede Vernunft geliebt: "Man versteht einfach nicht, wie kann etwas Richtiges so falsch sein?"

 Herdís Anna Jónasdóttir und Michael Pflumm im Staatstheater, wo ihr Musical am 1. Oktober Premiere hat. Foto: Rich Serra

Herdís Anna Jónasdóttir und Michael Pflumm im Staatstheater, wo ihr Musical am 1. Oktober Premiere hat. Foto: Rich Serra

Foto: Rich Serra

Natürlich steht die Oper per se für das ganz große Gefühlskino, und auch die Liebenden in "La Traviata" oder in "La Bohème" sind Ikonen. Doch Bernstein, meint Pflumm, habe in der "West Side Story " in Sachen klangliche Emotion Immenses geleistet: "Mehr geht nicht!" Die besondere Note in der Gestaltung der Rolle sucht er nicht, "die hat man". Jeder Sänger gebe den immergrünen "Tonights" und "Somewhere"-Ohrwurm-Titel etwas Spezielles mit. Aber wie dem Kitsch nicht in die Arme rennen? "Die Musik ist alles andere als naiv!", sagt Herdis mit Blick auf die dynamische Mischung von Mambo und Puccini-Schmelz, Jazz und Schnulzen. Doch ist ein Theater-Selbstläufer nicht langweilig? Celis widerspricht: Auch ein vermeintlich unkaputtbares Stück bekomme man klein, durch Mittelmaß. Diese Gefahr scheint schon gebannt. Was dieses Paar an Gefühls-Überschwang erzeugt, liegt jenseits jeder Durchschnitts-Erfahrung.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort