Wenn aus Überforderung Leichtsinn wird

Gera/Bonn. Er habe sich an die Gefahr gewöhnt, sagt ein 20 Jahre alter Ex-Soldat. Wer täglich eine Pistole mit sich herumtrage, vergesse schon mal, "was passieren kann, wenn man nicht aufpasst". Irgendwann sei die Waffe so selbstverständlich wie ein Handy, erzählen seine Kameraden. Und, ja: "Wir haben cool mit der Waffe rumhantiert, Blödsinn gemacht

 Bundeswehrsoldaten in Afghanistan stehen neben dem Turm eines Schützenpanzers. Wie wirken sich Dauerbelastung und der tägliche Umgang mit Waffen auf die Soldaten aus? Foto: Gambarini/dpa

Bundeswehrsoldaten in Afghanistan stehen neben dem Turm eines Schützenpanzers. Wie wirken sich Dauerbelastung und der tägliche Umgang mit Waffen auf die Soldaten aus? Foto: Gambarini/dpa

Gera/Bonn. Er habe sich an die Gefahr gewöhnt, sagt ein 20 Jahre alter Ex-Soldat. Wer täglich eine Pistole mit sich herumtrage, vergesse schon mal, "was passieren kann, wenn man nicht aufpasst". Irgendwann sei die Waffe so selbstverständlich wie ein Handy, erzählen seine Kameraden. Und, ja: "Wir haben cool mit der Waffe rumhantiert, Blödsinn gemacht." Genau so ein leichtsinniges Spiel könnte einem jungen Soldaten in Afghanistan das Leben gekostet haben. Er starb 2010 durch den Schuss aus der Waffe eines Kameraden. Der spricht vor dem Landgericht Gera von einer Fehlfunktion. Am Mittwoch soll ein Urteil fallen. Zwischen den Zeilen der Zeugenaussagen wird deutlich, unter welchem Druck junge Soldaten im Einsatz stehen.Die Bundeswehr engagiert sich seit Ende 2001 in Afghanistan. Derzeit sind 5075 deutsche Soldaten in der Internationalen Schutztruppe Isaf am Hindukusch stationiert. Der tödliche Schuss, um den es im Geraer Prozess gerade geht, fiel im Feldlager in der Unruheprovinz Baghlan - es ist eines der gefährlichsten. Sobald die Soldaten das Lager verlassen, können vergrabene Bomben auf den Straßen lauern. "Jede Sekunde kann es einen Riesenschlag tun und ich bin tot", erzählt André Wüstner vom Vorstand des Deutschen Bundeswehrverbands. Dazu Nächte im Zelt, kaputte Duschen, lange Wachdienste, Sandstürme, Schlafmangel - sechs Monate lang. "Das wirkt sich brutal aus", sagt der Verbandsvize. Besonders schlimm sei die Situation, seit die Bundeswehr die Einsatzdauer von vier auf sechs Monate angehoben habe. "Es ist psychologisch bewiesen, dass die Soldaten überlastet sind", erklärt der Major, der selbst in Afghanistan stationiert war. "Unter dieser Dauerüberlastung reagieren einige mit Leichtsinn."

Bei ihren Spielchen mit der ungeladenen Waffe hätten sie öfter auch abgedrückt, erzählt ein Zeitsoldat in Gera. Er ist erst 22 Jahre alt. "Wir haben nie auf andere Menschen gezielt, immer nur auf die Zeltwand", betont er. Andere wollen auch auf Köpfe gerichtete Pistolen gesehen haben. Solch spielerischen Umgang mit der Waffe habe es schon immer gegeben, sagt Wüstner. Auch aus anderen Lagern ist bekannt, dass sich Soldaten Pistolen an den Kopf hielten - teils sollen die Waffen sogar geladen gewesen sein.

Im Büro des Wehrbeauftragten Hellmut Königshaus (FDP) wurde "Waffenposing" bisher nicht offiziell gemeldet. Das Thema sei trotzdem bekannt, heißt es. "Und bei einer Armee im Einsatz wird es nicht gerade seltener." Königshaus könne sich wegen des laufenden Verfahrens nicht äußern. In seinem Jahresbericht steht, unerfahrenen Vorgesetzten fehle es "bisweilen an Wissen und Gespür dafür, wann die Grenzen zum Dienstvergehen beziehungsweise zur Straftat überschritten werden". Auch ein Bundeswehr-Sprecher will sich mit Hinweis auf den Prozess nicht äußern.

Die Frage sei, wann ein Soldat so überlastet sei, dass er müde und leichtsinnig werde, sagt Wüstner. Derzeit bekämen die jungen Männer im Einsatz keine regelmäßigen Ruhepausen. Den Jungs, in deren Zelt im Feldlager der tödliche Schuss fiel, stand eine schwierige Mission bevor. Drei oder vier Tage "draußen", nahezu ungeschützt, mit wenigen Stunden Schlaf. Und das, obwohl sie vom Wachdienst ohnehin geschafft waren, berichten die Soldaten. Wüstner weiß: Einige verarbeiten den Stress mit Galgenhumor, andere ziehen sich zurück. Viele haben Probleme einzuschlafen, andere werden leichtsinnig. Das passiere nicht nur den jungen Soldaten. "Auch einem Oberstleutnant bricht mal ein Schuss los beim Entladevorgang."

Mit weniger Personal bei gleichbleibend hoher Operationsdichte und fehlenden Ruhepausen könnte es noch schlimmer werden, befürchtet Wüstner. Die jungen Soldaten beschweren sich vor Gericht nicht über Druck oder Überforderung. "Sie ertragen ganz viel, ohne Ansprüche zu stellen", sagt der Major. "Ich bin sicher, wenn sie mal entspannen dürfen, sind das klasse Soldaten." "Jede Sekunde kann es einen Riesenschlag tun und ich bin tot."

Major André Wüstner

Hintergrund

Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) wird am Mittwoch bekannt geben, welche der heute noch 400 Bundeswehrstandorte im Zuge der Streitkräfte-Reform geschlossen werden. Am Wochenende trat sein Ministerium Schätzungen entgegen, wonach bis zu ein Drittel der derzeitigen Standorte geschlossen werden könnte. "Wir schätzen nicht. Die Stationierungsentscheidungen fallen in der nächsten Woche", sagte ein Sprecher des Ministeriums.

Viele Bundesländer bereiten sich bereits auf deutliche Einschnitte vor, wie eine dapd-Umfrage ergab. Vor allem jene Länder mit einer überdurchschnittlichen Stationierungsdichte könnten von den Schließungen betroffen sein. Über dem Bundesschnitt liegen Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz. Dagegen müssten sich Hamburg, Hessen und Sachsen wenig Sorgen machen, wenn es nach der Zahl der stationierten Soldaten pro Einwohner ginge. De Maizière hatte angekündigt, die Entscheidung für alle Länder transparent zu machen. Dafür wurden vier Kriterien aufgestellt: Funktionalität, Kosten, Attraktivität und Präsenz in der Fläche. Das Saarland hat mit Saarlouis, Merzig und Lebach drei Standorte. dapd

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