Wenig Euphorie an der Adria

Zagreb · Wird für Kroatien alles besser, wenn es erst Mitglied der EU ist? Da sind sich die Bürger nicht so sicher. Die jahrelange Wirtschaftskrise hat die Menschen entmutigt. Die Vorfreude hält sich deshalb in Grenzen.

Josip will bleiben. Tomislav will gehen. "Ich liebe Kroatien, es ist mein Land", sagt der eine. "Ich liebe mein Land genauso, aber es ist mir so vieles schuldig geblieben", meint der andere. Die beiden Brüder, 24 und 22 Jahre alt, studieren Medizin in Zagreb. Chirurgen wollen sie werden. "Wenn wir erst zu Europa gehören, werden wir es schaffen", ist Josip überzeugt. "Hier läuft so viel falsch, ich habe die Hoffnung verloren", meint Tomislav. Am 1. Juli, wenn Kroatien als 28. Land in die EU aufgenommen wird, wollen sie feiern. Alle beide. "Es ist ein großes Datum", darin sind sie sich einig. "Alle hoffen, dass es besser wird", ergänzt der ältere Josip. "Aber jeder versteht darunter etwas Eigenes."

Euphorie sieht anders aus. Vor neun Jahren, als die Gemeinschaft sich mit einem Schlag um zehn Staaten weit nach Osten erweiterte, waren die Plätze und Innenstädte der neuen Mitgliedstaaten schon Wochen vorher mit europäischen Fahnen geschmückt. In Zagreb suchte man in den vergangenen Wochen vergebens nach Flaggen, Symbolen, festlichen Vorbereitungen. Jahrelang hat sich der Prozess hingezogen, unter anderem weil der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag der kroatischen Führung mangelnde Zusammenarbeit bei der Suche nach Kriegsverbrechern wie Ante Gotovina vorgeworfen hatte. Als der festgenommen worden war, kam die Sache ins Rollen. "Kroatien ist bereit", hatte die EU-Kommission vor wenigen Monaten im bisher letzten Fortschrittsbericht geurteilt. Der 1. Juli 2013 stand damit fest.

Doch die 793 000 Einwohner große Hauptstadt des Landes strahlt nicht gerade das Selbstbewusstsein einer westlichen Metropole aus. Touristen zieht es eher nach Dubrovnik oder Split. Der ehemalige Wirtschaftsjournalist Ante Gavranovic (80) kennt die Stimmung im Land: "Vorfreude ist das nicht. Nach fünf Jahren Wirtschafts- und Finanzkrise sind die Menschen entmutigt." 35 Prozent der jungen Menschen haben keinen Job, Kroatien wird das Land mit der dritthöchsten Jugendarbeitslosigkeit in der Gemeinschaft werden. Die Wirtschaft leidet seit 2008 unter einem stetigen Rückgang. "Wir haben die Auflagen aus Brüssel erfüllt. Und darauf können wir stolz sein", sagt Gavranovic, "aber uns fehlt ein Konzept für eine ökonomische Zukunft. Dabei sind die Reichtümer Kroatiens enorm."

Eine der schönsten Landschaften Europas, unermessliche Möglichkeiten zur Energie-Gewinnung für EU-Partner, hochqualitative Nahrungsmittel-Herstellung, Spitzenprodukte für den Weltmarkt (die Nato bezieht Schuhe und Helme von kroatischen Herstellern) - all das wird immer wieder genannt. Doch die Realität sieht häufig nicht ganz so glanzvoll aus. "Unsere derzeitige Regierung hat viele ökonomische Probleme übernommen", erklärt Visnja Samardzija. Die Professorin, die heute die Abteilung EU am Institut für Entwicklung und internationale Beziehungen in Zagreb leitet, war in den Anfangsjahren Mitglied der Delegation, die den Beitritt vorbereitete. "Eine Mehrheit der Kroaten erwartet bessere Perspektiven für die Wirtschaft und ein verlässliches Rechtssystem. Eine Minderheit fürchtet, dass gut ausgebildete Leute ins Ausland gehen könnten. Und sie haben Angst, dass Reiche die Grundstücke an den Küsten aufkaufen und die nationale Identität verloren geht." Neue Umfragen zeigen: Deutlich mehr als 60 Prozent der Kroaten hoffen auf die EU, gut 30 Prozent sind eher skeptisch.

Die Angst in den neuen Partner-Ländern vor einer Abwanderungswelle Richtung Westen, teilt in Zagreb niemand. "Kroatien hat 4,4 Millionen Einwohner. Wo sollte da eine ‚Welle' herkommen?", fragt Ivo Lovric. Der Journalist arbeitet bei der Nachrichtenagentur HINA. "Die Menschen hier sind sehr stolz, sie wollen nicht mit dem Geld anderer hochgepäppelt werden. Sie wollen es selber schaffen. Aber dafür brauchen sie Hilfe." Von den 4,4 Millionen Landeskindern haben 1,2 Millionen Arbeit. "Wir bräuchten zwei Millionen Erwerbstätige, um klarzukommen", sagte der Wirtschaftsfachmann Gavranovic. Es fehlt nicht einmal an Investoren, aber an geeigneten Strukturen. Als die Möbelhauskette Ikea bei Zagreb einen neuen Markt eröffnen wollte, mussten die Schweden fast zwei Jahre auf die Genehmigungen warten. "Wenn sie hier zu einem Amt gehen", sagt der Journalist Lovric, "haben sie das Gefühl, dass sich nichts geändert hat." Da werde nach Gebührenmarken, Stempeln und Formularen gefragt, von denen selbst gebürtige Kroaten gar nicht wussten, dass es sie gibt.

"Das Land hat viel geschafft", sagt Dietmar Dirmoser, der das Büro der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in Zagreb leitet. "Man hat innerhalb von 15, 20 Jahren die Demokratie und die Marktwirtschaft installiert und friedenssichernde Maßnahmen mit den Balkan-Nachbarn getroffen. Das ist eine große Leistung. Aber jetzt muss das Land selbst stabilisiert werden." Das heißt wohl auch: Vertrauen in die politische Spitze schaffen. Korruption benennen Kroaten in Übereinstimmung mit den EU-Gutachtern als großes Problem. "Die Bürokratie verleitet dazu, sich Genehmigungen auf anderen Wegen zu holen, wenn die legalen unmöglich erscheinen", hört man oft.

Hinzu kommt in der Öffentlichkeit auch massive Verärgerung über die EU. Die habe sich bei den Beitrittsverhandlungen nicht selten "autoritär und unsensibel" gezeigt", sagt Ivo Lovric. Nationale Eigenheiten wurden weggedrückt, Ängste übergangen. Das zeige sich in Kleinigkeiten. Da wurde über traditionelle Herstellungsverfahren für landwirtschaftliche Produkte wie Käse oder Schinken gestritten. Am Ende setzten sich die Unterhändler durch und verordneten den kroatischen Produzenten die Umstellung auf EU-Standards. "Das hat für viele Antipathien gesorgt", sagt Professorin Samardzija.

Dabei müssen die Kroaten noch ein weiteres Problem lösen. Denn auch wenn die meisten Narben des Krieges in den 1990er Jahren geheilt scheinen, es gibt noch viele Wunden. "Der Balkan hat Störpotenzial", erklärte Kroatiens Außenministerin Vesna Pusic kürzlich. Noch sind die Beziehungen zu den wichtigsten Nachbarn Serbien und Bosnien-Herzegowina politisch nicht wirklich geklärt. Vielleicht schauen viele Kroaten auch deshalb besonders auf ein Ereignis, das die Beitrittsfeierlichkeiten am Montag überlagern könnte: Unter den Ehrengästen wird auch der serbische Präsident Tomislav Nikolic sein. Es ist der erste Besuch eines Staatsoberhauptes aus Belgrad seit dem Ende des Balkan-Krieges. Für Kroatien ein weiterer Hoffnungsschimmer, ausgerechnet an dem Tag, an dem das Land zur EU stoßen wird.

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HintergrundKroatien erlangte am 25. Juni 1991 seine Unabhängigkeit von Jugoslawien und wurde schon im Dezember des gleichen Jahres von Deutschland und den übrigen EU-Staaten anerkannt. Heute leben knapp 4,4 Millionen Menschen in dem Land. Nach der Unabhängigkeit baute die Regierung eine parlamentarische Demokratie nach westlichem Vorbild auf. Derzeit regiert der Sozialdemokrat Zoran Milanovic (46). An der Spitze des Staates steht Ivo Josipovic (55).dr

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