„Wen der Herr liebt, den züchtigt er“

St Wendel/Saarbrücken · Wie viele Heimkinder es im Saarland in den 50er, 60er und 70er Jahren gab, ist nicht bekannt. Und auch nicht ihr Schicksal. Ein Betroffener erzählt, wie schlimm seine Kindheit im St. Wendeler Hospital war.

 Heimkinder im St. Wendeler Hospital Ende der 50er Jahre in Begleitung einer Ordensschwester. Foto: Hospital St. wendel

Heimkinder im St. Wendeler Hospital Ende der 50er Jahre in Begleitung einer Ordensschwester. Foto: Hospital St. wendel

Foto: Hospital St. wendel

Seinen richtigen Namen will Herr Fröhlich nicht nennen. In bitterer Ironie hat er sich das Pseudonym Fröhlich gegeben, er, der seit Jahren an Depressionen leidet. Zehn Jahre seines Lebens hat er in Kinderheimen verbracht, sieben davon im Hospital in St. Wendel, das bis in die 70er Jahre vom katholischen Orden der Borromäerinnen geführt wurde. Als Vierjähriger kam er zum ersten Mal in ein Heim, als uneheliches Kind einer alleinstehenden Frau. Keine Seltenheit im Deutschland der 50er und 60er Jahre. "Das entsprach der damaligen Logik", sagt Professor Christian Schrapper, Pädagoge an der Universität Koblenz-Landau, der sich seit Jahren mit der früheren Heimerziehung beschäftigt. War die Mutter zu jung oder nicht in der Lage, sich um ihr Kind zu kümmern, kam es in ein Heim - manchmal auch nur, weil es als unmoralisch galt, dass eine Frau, die "in Sünde" lebte, ein Kind großzog.

"Wir wurden vernachlässigt. Zuwendung gab es nicht", sagt Herr Fröhlich. Es sei den Ordensschwestern sogar verboten gewesen, eine Beziehung zu ihren Schützlingen aufzubauen, damit die Kinder sich nicht zu sehr an sie gewöhnten. "Wen der Herr liebt, den züchtigt er, wie ein Vater seinen Sohn, den er gern hat" - ein Bibel-Zitat, das die Schwestern wörtlich nahmen, sagt Fröhlich. Prügel mit dem Rohrstock seien an der Tagesordnung gewesen. Es fällt ihm schwer, über die Vergangenheit zu sprechen, nur mühsam bringt er die Worte heraus: "Es war wie im Ghetto." Ein Leben außerhalb der Mauern des Heims gab es nicht.

Aber nicht jeder hat so schmerzhafte Erinnerungen an seine Kindheit in St. Wendel. Andere "Hospitaler" denken gern an die Zeit zurück, erzählen von Schwestern , die mit den Kindern Fußball spielten, von Ausflügen zur Saarschleife und vom Glühwürmchenfangen im Sommer. Doch seit der Runde Tisch "Heimerziehung " des Bundes zwischen 2009 und 2011 die Vorgänge der 50er und 60er Jahre aufgearbeitet hat, ist laut Schrapper, der mit am Tisch saß, eines klar geworden: "Ging es Kindern im Heim gut, war das eher ein Einzelfall." Schrapper hat mit vielen ehemaligen Heimkindern gesprochen, viele Geschichten gehört: von Bettnässern, die stundenlang mit der feuchten Bettwäsche im Flur stehen mussten, von verpassten Chancen, weil den Jugendlichen eine gute Schulausbildung oder Lehre verweigert wurde, von sexuellen Übergriffen und sogar von Kindern, die sich aus Verzweiflung erhängten.

Im Saarland soll das Schicksal der Heimkinder zwischen 1949 und 1975 nun aufgearbeitet werden - drei Jahre nachdem der Runde Tisch den Ländern dies empfohlen hat. Warum erst jetzt? "Uns war wichtig, die Betroffenen mit ins Boot zu holen", sagt Maria Luise Blum, Leiterin des Landesjugendamtes. Eine "Herkulesaufgabe" sei es gewesen, die Menschen dazu zu bewegen, mitzumachen, ergänzt Peter Barrois, Vorsitzender des Landesjugendhilfeausschuss. Von rund 300, die sie fragten, erklärten sich nur sechs dazu bereit. Am morgigen Dienstag tagt erstmals ein saarländischer Runder Tisch mit Betroffenen, Heimträgern und Jugendämtern. Bis 2016 soll die Aufarbeitung abgeschlossen sein. Dann werde es wohl auch eine offizielle Entschuldigung geben, sagt Barrois: "Die Menschen erwarten das." Bis zu 100 000 Euro zahlt das Landessozialministerium für die Studie, die zuerst grundsätzliche Fragen beantworten muss: Wie viele Heime gab es in diesem Zeitraum? Wie viele Kinder lebten dort? Aber auch: Aus welchen Gründen kamen sie ins Heim? Wie lief der Alltag ab? Welche Rolle spielten Jugendämter, Heimträger und Landesjugendamt? Gab es Zwangsarbeit?

Dass auch im St. Wendeler Hospital etwas schief gelaufen sein könnte, wurde den heute Verantwortlichen erst vor anderthalb Jahren bewusst. Damals meldete sich zum ersten Mal ein ehemaliger "Hospitaler", der unter der Vergangenheit litt. "Seitdem haben uns noch zwei weitere kontaktiert", sagt Dirk Schmitt, Leiter der Stiftung Hospital - unter anderem Herrn Fröhlich. Schmitt und seine Kollegin Astrid Schmitt-Jochum, die die Jugendhilfe leitet, sind sichtlich bemüht, die Geschichte aufzuarbeiten und sich der Verantwortung zu stellen. "Wir nehmen das sehr ernst", sagt Schmitt.

Wie kann man erlittenes Unrecht entschädigen? Zwei Jahre lang stritt der Runde Tisch des Bundes über diese Frage. Am Ende wurde ein Fonds auf den Weg gebracht - 120 Millionen Euro, finanziert von Bund, Ländern und Kirchen. Er sollte Rentenleistungen nachholen, für Heimkinder , die zur Zwangsarbeit genötigt wurden, und er sollte Ausgleichszahlungen für Folgeschäden leisten.

Unumstritten war der Runde Tisch indes keineswegs. Vertreter der Heimkinder kritisierten die Fonds-Summe als zu niedrig und forderten eine pauschale Entschädigung für alle. Jetzt, zwei Jahre später, ist der Fonds nahezu ausgeschöpft, soll aber aufgestockt werden, wie Peter Klesen vom Landessozialministerium versichert: "Derzeit laufen Verhandlungen zwischen Bund, Ländern und Kirchen. Wir können optimistisch sein, dass es weitergeht." Bis 31. Dezember 2014 können Betroffene noch bei der Anlaufstelle für ehemalige Heimkinder Unterstützung beantragen. Herr Fröhlich hat das nie getan: "Es ist demütigend, für ein paar Tausend Euro die Hosen runterlassen zu müssen."

Als Herr Fröhlich mit 15 Jahren das Hospital in St. Wendel hinter sich ließ, kam er mit dem Leben nicht zurecht: "Die Welt hat ganz anders funktioniert." Er begann eine Lehre, arbeitete, funktionierte einfach nur. Vor 13 Jahren - er war Ende 40 - brach er zusammen, versuchte sich umzubringen, weil er die Erinnerung nicht mehr ertrug. Mehrere Klinikaufenthalte hat er inzwischen hinter sich, zugleich ist er ein äußerst umtriebiger Mensch, ruft bei Politikern an, bei Behörden, bei Medien. Er will, dass sich etwas ändert. Um Geld geht es ihm dabei nicht. Er sucht Hilfe, um sein Trauma zu bewältigen. Doch die Trauma-Therapie steckt in Deutschland noch in den Kinderschuhen. Eine "Baustelle" sei das, sagt auch Schrapper. Doch Herr Fröhlich könnte nach jahrelanger Suche fündig geworden sein - ausgerechnet dort, wo er die schlimmsten Jahre seines Lebens verbrachte. Die Stiftung Hospital geht davon aus, dass Trauma-Arbeit immer wichtiger wird und hat ihre Mitarbeiter in den vergangenen Jahren intensiv weitergebildet. Auch Herrn Fröhlich bot Jugendhilfe-Leiterin Astrid Schmitt-Jochum eine Therapie an. "Man darf die Menschen nicht im Regen stehen lassen", sagt sie.

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Auf einen BlickBis 31. Dezember 2014 können Betroffene noch finanzielle Unterstützung aus dem Fonds "Heimerziehung " beim Landesjugendamt beantragen: Ministerium für Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie, Landesjugendamt (Ursulinenstraße 8-16) in Saarbrücken, Anlaufstelle für ehemalige Heimkinder , Tel. (06 81) 5 01 20 83. Rund 300 Menschen im Saarland haben sich bislang an die Anlaufstelle gewandt, 130 Anträge sind noch nicht bearbeitet. 1,7 Millionen Euro wurden ausgezahlt, davon 600 000 Euro als Rentenersatzleistung und 1,1 Millionen als Sachleistung oder Kostenübernahme für Therapien. noe

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