Inklusion im Saarland Was es heißt, da zu sein, wo es brennt

Saarbrücken · Inklusion oder nicht? Ein Besuch im Saarbrücker Förderzentrum am Ludwigsberg und in der Pilot-Grundschule Füllengarten.

 Normalität zu ermöglichen, ist auch das Hauptziel von Inklusion.

Normalität zu ermöglichen, ist auch das Hauptziel von Inklusion.

Foto: dpa/Markus Scholz

Selbst im Winter kommen hier manche Kinder ohne Socken in die Schule. Oder in viel zu engen Kleidern. „Da sehen Sie dann Kinderarmut. Aber richtig“, sagt Irena Boutros-Krieger, eine der Lehrerinnen am Saarbrücker Förderzentrum am Ludwigsberg, dem größten der sieben sonderpädagogischen Förderzentren im Saarland. Sie organisiert den „Kleiderladen“, bestückt mit Spenden aus dem Kollegium und Freundeskreis der Lehrer: Zweimal pro Woche können sich die Schüler – deren Eltern meistens entweder Hartz IVler sind oder prekär beschäftigt – gebrauchte Schuhe, Jacken und Kleider aussuchen. „Letzte Woche haben wir wieder drei Säcke voller Kleider bekommen. In 15 Minuten war alles weg.“ Jedes Kleidungsstück wird quittiert. Damit die Eltern wissen, dass ihre Kinder die Sachen nicht geklaut haben.

Ein Stockwerk höher bringt die  Klasse 6/7 gerade frisch geschmierte Brote in die elf anderen Schulklassen. Belegt mit Käse, Salami oder Nutella. „Kiosk“ nennt sich das vom Förderverein getragene Projekt, das sicherstellen soll, dass jeder hier ein Frühstück bekommt. „Für manche Kinder ist das die einzige geregelte Mahlzeit am Tag“, sagt Vize-Rektor Meinhard Volz. Weil manche Eltern sich nicht kümmern, kein Geld haben, nichts auf die Reihe kriegen oder eben auf das Frühstücksprojekt der Schule setzen.

3600 Euro kostet es im Jahr. Weil der Förderverein nur 90 Mitglieder hat, braucht es jedes Jahr weitere Sponsoren. Schulsozialarbeiterin Bettina Kunze bestätigt, dass „unsere Kinder häufiger sagen, dass man bei ihnen zuhause nie zusammen am Tisch sitzt, um zu essen.“ Insoweit dient das Projekt auch dem Ein­üben sozialer Grundfertigkeiten. Jeden Tag werden sieben Kilo Brot für alle geschmiert. „Jede Klasse kriegt drei Teller. Auf jedem sind zehn Brote“, rechnet Thanar (15) vor, der sich ansonsten sein Frühstück im „Norma“ holt. Wenn das nötige Kleingeld da ist. Viele Kinder hier haben es nicht. Erzählen einem aber, dass sie im Sommer mit den Eltern vielleicht nach Spanien fliegen. Wunschträume, die am Ludwigsberg viele haben. Auch deshalb sind im „Kleiderladen“ Markenartikel besonders gefragt – um nicht immer gleich als arm stigmatisiert zu werden.

Normalität zu ermöglichen, ist auch das Hauptziel von Inklusion. Eine Förderschule wie die am Ludwigsberg besuchen Kinder inzwischen nur noch, „wenn die Eltern es ausdrücklich wünschen“, so Schulleiter Matthias Meyer. Das erklärt, warum von den 140 Förderschullehrern des landesweit größten Förderzentrums 120 an Regelschulen agieren – und nur noch 20 an der 160 Schüler zählenden Stammschule. Ein Regelschulausschluss ist heute nur noch bei massiver Eigen- und Fremdgefährdung möglich. Was aber bedeutet das für Grund- und Gemeinschaftsschulen?

Besuch in der gebundenen Ganztagsgrundschule Füllengarten im Saarbrücker Stadtteil Burbach – einer von sieben Pilotschulen im Land, an denen seit 2011 Inklusion in Grundschulen erprobt wird: Die Frage, ob es gut klappt mit der Inklusion, amüsiert Schulleiterin Eva Moog-Quirin fast. „Nach drei Jahren konnte sich keiner von uns mehr vorstellen, wieder anders zu arbeiten.“ Redet man länger mit Moog-Quirin, wird klar, was sie mit dem Satz meint, dass „wir uns als Schule sehr verändert haben“. Und wie viel er mit der spezifischen Situation einer sogenannten Brennpunktschule zu tun hat. Am Füllengarten werden die Klassen 1 bis 3 zweizügig jahrgangsübergreifend gemeinsam unterrichtet. Hinzu kommen zwei 4. Klassen. Weil viele Kinder aus schwierigen Verhältnissen kommen, gehe die Schere in jeder Klassenstufe ohnehin weit auseinander. Insoweit sei schwer zu fassen, wo Inklusion beginnt.

Anders gesagt: Differenzieren mussten die zwölf Regelschullehrer am Füllengarten immer schon. „Weshalb wir generell genauer hingucken“, meint die Schulleiterin. Individuelle Förderkonzepte werden groß geschrieben. Neben je zwei vom Jugendamt finanzierten „Strukturhelfern“ und „FSJlern“ (Freiwilliges Soziales Jahr), die in den Klassen 1 bis 3 mitbegleiten, arbeiten in der „Lernoase“ der Schule eine Erzieherin und ein „Bufdi“ (Bundesfreiwilligendienst). Die „Lernoase“ ist der Ort, den Martina Von der Weydt, die einzige Förderschullehrerin am Füllengarten,  „unseren Backup-Bereich“ nennt: Kinder, die eine Auszeit brauchen oder „wieder runterkommen müssen“, können dort Ruhe und Zuwendung tanken. Früher, vor der Inklusion, habe sie ein Kind im Schnitt zwei Stunden pro Woche gehabt. „Da ist dein Kind, hieß es dann. An der Schule selbst fühlte sich keiner zuständig“, erzählt sie. Heute ist Von der Weydt, wie sie sagt, „überall da, wo es brennt“. Schulleiterin Moog-Quirin glaubt, dass am Füllengarten der Gemeinschaftssinn heute größer ist als früher. „Sicher, es gibt Kinder, denen die Struktur einer Förderschule besser tut. Die Frage aber ist, inwieweit es schwierigen Kindern in einem schwierigen Umfeld gelingt, gute Beispiele zu erleben.“

Wie viele Förderstunden bedürftigen Kindern an Regelschulen zugebilligt werden, muss dort fortwährend neu ermittelt werden. Und hängt etwa von der Größe der Schule und deren jeweiligem Einzugsgebiet ab. Ein Grundschlüssel, der dann weiter individualisiert wird, sobald Schüler „auffallen“. Ein Knackpunkt aller Inklusionsdebatten: Weil Fachbegutachtungen weitgehend entfallen, ist immer schwerer auszumachen, welche Kinder welche Defizite haben. Wer entscheidet, bei wem wieviel Bedarf besteht? Davon hängt ab, ob die aus Förderschullehrern rekrutierten Feuerwehren an Regelschulen tätig werden. Kurz gesagt, basiert die Förderplanung an Regelschulen auf deren enger Kooperation mit den Förderzentren. Und bedingt dann die Mittel der Wahl: Teamteaching, Kleingruppen- oder Einzelunterricht. Wobei selbst Kinder mit Defiziten in der geistigen Entwicklung wöchentlich maximal vier Stunden (!) Sonderförderung erhalten. In der Burbacher Füllengartenschule sind auch drei geistig behinderte Kinder integriert. Drei vom Landesamt für Soziales finanzierte „Schulbegleiter“ unterstützen sie. Fragt man, wie es klappt, antwortet Schulleiterin Moog-Quirin, wie froh sie sei, „nicht mehr darum kämpfen zu müssen, dass Kinder ein Recht darauf haben, hier in dieser Schule zu sein“.

Zurück in die Förderschule am Ludwigsberg: Während er sein ihm aus der Kantine von einem Schüler gebrachtes Schnitzel („Ihr Lieferservice, Chef!“) isst, erzählt Förderzentrumleiter Meyer, dass die Belastung der Förderlehrer nach deren eigener Einschätzung von Jahr zu Jahr zunimmt. Zudem sprechen viele Indizien dafür, dass die Zahl der lern-, sprach- oder verhaltensauffälligen Schüler in allen Schulformen zunimmt. Die Gründe reichen von häuslicher Vernachlässigung über schulische Überforderung bis hin zur Reizüberflutung durch soziale Medien: „Wir haben hier retardierte, traumatisierte, missbrauchte, gemobbte und verwahrloste Kinder“, dekliniert Matthias Meyer das gesamte Spek­trum am Ludwigsberg in seinen kindlichen Folgen durch. Weshalb Vize Volz denn auch meint, dass „Beziehungsarbeit immer wichtiger wird“ – doch längst nicht alleine an Förderschulen. Wie ruft Volz einem später, auf dem Weg in die 5. Stunde, zu? „Wenn wir klassischen Frontalunterricht machen würden, ginge es bei uns drunter und drüber.“

Dass das Thema Inklusion einigen politischen Sprengstoff besitzt, liegt auf der Hand: Hinter die UN-Behindertenkonvention kann und will zwar niemand zurück, die Probleme bei deren Umsetzung im Schulalltag sind jedoch auch unübersehbar. Und werfen je nach politischer Farbenlehre alte Grundsatzfragen auf: Während die einen auf Bildungsgerechtigkeit setzen, warnen die anderen vor zu viel Gleichmacherei. Die hiesige Große Koalition kann die in dieser Frage bestehenden Partei­gräben zwischen CDU und SPD auch nur schwer zuschütten. Schulleiter wie Matthias Meyer halten sich denn auch lieber bedeckt.

Dass Meyers Förderschule ihre Berechtigung nicht verliert, hat mehrere Gründe. Zum einen, so Meyer,  „waren manche Eltern unserer Schüler früher selbst hier“. Zum anderen biete man mit nur zehn, elf Schülern überschaubare Klassengrößen. Aber da ist noch etwas: „Förderschule kann sehr heilend sein, weil der Druck rausgenommen wird“, sagt Meyer. Ähnlich betont  Volz „die Erfolgserlebnisse für Schwache“, die in Schonräumen wie einer Förderschule möglich seien. Viele hier kämen im Regelsystem einfach nicht zurecht, sagt Meyer. Als Lehrer brauche man da ein dickes Fell und Geduld. Erfahre aber auch viel Dankbarkeit. Wie sagt der Vorsitzende des Fördervereins, Wolfgang Doub? „Für viele ist die Schule eine Art Familienersatz.“ Viele Lehrer decken sich denn auch nach den Sommerferien in Discountern großzügig mit Schulmaterialien ein, weil auf Eltern und Kinder nicht immer Verlass ist.

Immerhin 60 Prozent der 160 Förderschüler schaffen die zehnte Klasse und damit den Hauptschulabschluss, der Rest (Abbrecher gibt es so gut wie nicht) verlässt den Ludwigsberg mit Förderabschluss und den zwei verbleibenden Optionen zum Hauptschulabschluss: BGJ (Berufsgrundbildungsjahr) oder BVJ (Berufsvorbereitungsjahr). Und dann? Finden sie im Idealfall einen Job und wiederholen eines Tages nicht, was ihre Eltern ihnen teilweise an Störungsbildern vorgelebt und nicht selten selbst als Kinder erlitten haben.

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