Walter H. bringt die Polizei in Personal-NotJuristisches Chaos hat vorerst ein Ende

Saarbrücken. Walter H. (61) ist ein freier Mensch. Er kann tun und lassen, was und wie er will. Am 12. Mai dieses Jahres wurde er auf Anweisung des Bundesgerichtshofes (BGH) aus dem Saarbrücker Gefängnis entlassen. Der Ex-Schwerverbrecher saß 22 Jahre und rund 300 Tage ununterbrochen hinter Schloss und Riegel - nachdem er seine Strafe verbüßt hatte, in Sicherungsverwahrung

Für einige Häftlinge in Sicherungsverwahrung haben sich die Gefängnistore in den vergangenen Monaten wieder geöffnet. Foto: dpa

Saarbrücken. Walter H. (61) ist ein freier Mensch. Er kann tun und lassen, was und wie er will. Am 12. Mai dieses Jahres wurde er auf Anweisung des Bundesgerichtshofes (BGH) aus dem Saarbrücker Gefängnis entlassen. Der Ex-Schwerverbrecher saß 22 Jahre und rund 300 Tage ununterbrochen hinter Schloss und Riegel - nachdem er seine Strafe verbüßt hatte, in Sicherungsverwahrung. Eine Gefährdungsanalyse, die auf Experten-Gutachten basiert, geht davon aus, dass der frühere Sextäter ein "triebgesteuertes Verhalten" hat, das insbesondere unter Alkoholeinfluss jederzeit wieder aufbrechen kann. Von dem Mann geht demnach eine Gefahr für die Allgemeinheit aus.

Für die Sicherheitsbehörden ist diese negative Prognose Anlass, Walter H. permanent überwachen zu lassen. Rund um die Uhr begleiten insgesamt 16 Polizisten in zwei Schichten den Ex-Gefangenen, ob beim Spaziergang, beim Einkaufen oder auf dem Weg zu Anwalt oder Arzt. Untergebracht ist Walter H. in einem Saarbrücker Hotel. 60 Euro pro Nacht zahlt die Justizkasse dafür dem Hotelier. Im Nachbarzimmer sind seine Bewacher einquartiert. Vor der Herberge parkt ein Zivilauto, damit die Polizisten sofort reagieren können, wenn ihre Zielperson sich auf den Weg macht. Eine andere Bleibe konnte für Walter H., der von Hartz IV lebt, bislang nicht gefunden werden.

Hugo Müller (Foto: Engel), Landeschef der Gewerkschaft der Polizei (GdP) an der Saar, spricht im Fall Walter H. von einem extrem personalintensiven Überwachungseinsatz, wie ihn die Polizei "in dieser Art noch nie erlebt hat". Berücksichtige man Urlaub und Freizeit, binde der Auftrag einen Personalpool von etwa 25 Beamten bei der Bereitschaftspolizei und der Kriminalpolizei-Inspektion. Die Polizei-Inspektion im Köllertal sei durchschnittlich im Wachdienst mit sieben Beamten besetzt. Mindestens die gleiche Zahl an Kräften sei zeitgleich mit Walter H. beschäftigt.

Aus Sicht von GdP-Chef Müller kann und darf dies keine Dauerlösung werden, denn: Die Saar-Polizei geht seit Jahren personell auf dem Zahnfleisch: "Die Polizei ist ratlos und am Ende ihrer Kräfte!" Die oftmals geforderte elektronische Fußfessel für Fälle wie Walter H. sei keine Lösung. Damit könne nachträglich überprüft werden, wo sich der Kandidat wann aufgehalten habe. Eine direkte Interventionsmöglichkeit sei aber nicht gegeben. Genau deshalb müsse die Polizei permanent an seiner Seite stehen. Nach dem Votum der Gutachter könne jederzeit eine Gefahr von dem Ex-Sextäter ausgehen, insbesondere, wenn er getrunken habe. Von dem Mann selbst, der zwischenzeitlich eine homosexuelle Partnerschaft mit einem Insassen der Merziger Forensik hat beurkunden lassen, stammt der Satz: "Im Suff bin ich bekloppt." Bislang hat sich Walter H. an seine vom Landgericht diktierten Führungsauflagen gehalten. Er lebt abstinent.

Wird die Dauerüberwachung tatsächlich unbefristet fortgesetzt, droht der Polizei die Luft auszugehen. Nach knapp dreimonatigem Einsatz, der täglich 12 000 Euro kostet, sind nach GdP-Angaben bereits rund 10 000 Überstunden angefallen. Zudem ist Improvisationstalent gefordert. Walter H. hat aktuell spezialisierte Eingreif-Beamte der Bereitschaftspolizei als Dauerschatten. Diese Leute sind insbesondere bei Fußball-Einsätzen wie an diesem Samstag beim Spiel 1. FC Saarbrücken gegen Eintracht Braunschweig gefragt. Die Polizeiführung hatte schon wegen der Personalnot in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg Ersatzkräfte für das Spiel angefragt, disponierte dann aber kurzfristig wieder um: Die Bereitschaftspolizisten arbeiten am Samstag im Stadion. Beamte des Spezialeinsatzkommandos (SEK) übernehmen derweil die Schicht bei Walter H. Der Überstundenberg wächst weiter.

Der GdP-Landesvorsitzende reagierte "mit Betroffenheit" auf die Aussage von Regierungschef Peter Müller, er sehe keine Alternative zur Dauerüberwachung. Der Gewerkschaftschef schlägt vor, der Landesgesetzgeber könne kurzfristig überlegen, das eigene Polizeigesetz beim Thema Gefahrenabwehr zu ergänzen und präventive Ingewahrsamnahme auf Dauer vorsehen. Voraussetzung sollten entsprechende Gutachterstimmen und richterliche Anordnungen sein. Hugo Müller: "Ein solcher Paragraf im Polizeigesetz oder im Unterbringungsrecht war bisher nicht notwendig, weil es die nachträglich angeordnete Sicherungsverwahrung gab, wenn Experten meinten, die Leute müssten hinter Schloss und Riegel bleiben."

Walter H. wird demnächst möglicherweise auch die Juristen wegen seiner Dauerbewachung bemühen. Sein Anwalt Michael Rehberger hält die Anordnung für "relativ willkürlich". Es gebe keine Rechtsgrundlage. Für seinen Mandanten sei dies eine "erhebliche Belastung". Dagegen will Rehberger etwas unternehmen und das Verwaltungsgericht anrufen. Saarbrücken. Ein Urteil und seine chaotischen Folgen: Seit der Bundesgerichtshof (BGH) die Freilassung von Walter H. aus dem Saarbrücker Gefängnis angeordnet hat, hält die nachträgliche Sicherungsverwahrung die Justiz in Atem. Beinahe wöchentlich werden Beschlüsse von Oberlandesgerichten (OLG) bekannt, ob ein Straftäter, der immer noch als gefährlich gilt, entlassen werden muss oder nicht - und die fallen unterschiedlich aus.

Der Gesetzgeber hat darauf jetzt reagiert. Heute tritt ein Gesetz in Kraft, das eine einheitliche Rechtsprechung gewährleisten soll. Es hat zur Folge, dass der nächste Fall automatisch vor den BGH kommt, der verbindlich entscheiden muss.

Doch wie konnte es überhaupt zu den unterschiedlichen Beschlüssen der OLG kommen? Die Rechtslage scheint eindeutig: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg hatte Ende 2009 entschieden, dass Deutschland mit der nachträglichen Sicherungsverwahrung gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt. Neben Walter H. sind seither weitere Straftäter auf freien Fuß gesetzt worden. Doch in einigen Fällen haben Oberlandesgerichte die Freilassung auch abgelehnt.

"Das Straßburger Urteil ist für Deutschland völkerrechtlich bindend. Das heißt, der Gesetzgeber muss tätig werden", sagt Carl-Friedrich Stuckenberg, Professor für internationales Strafrecht an der Universität des Saarlandes. Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP, Foto: ddp) hat bereits eine Gesetzesreform auf den Weg gebracht, die die nachträgliche Sicherungsverwahrung abschafft. "Doch bis dahin steht sie im Gesetz", erklärt Stuckenberg. "Die Gerichte, die die Freilassung abgelehnt haben, berufen sich deshalb darauf, dass das Straßburger Urteil auf Grundlage des bestehenden deutschen Rechts nicht umgesetzt werden könne." Der BGH habe das im Fall Walter H. anders gesehen - und mehrere OLG hätten sich dem angeschlossen. Das neue Gesetz werde dem juristischen Chaos zumindest auf Ebene der Oberlandesgerichte ein Ende machen. "Wirklich klar wird die Lage aber erst durch die Änderung des Gesetzes zur Sicherungsverwahrung." Und die kann sich wegen der Ablehnung der Union hinziehen. mast

"Die Polizei

ist ratlos und am Ende ihrer Kräfte."

Gewerkschafts-Chef

Hugo Müller