Vorratsdatenspeicherung ist ein Fall fürs Museum

Luxemburg · Die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung war ein demokratischer Sündenfall. Gestern haben Richter die massenhafte Sammlung von Telefon- und Internetdaten gestoppt. Was machen Brüssel und Berlin jetzt?

Schallender hätte die Ohrfeige der Richter nicht ausfallen können. Die Vorratsdatenspeicherung ist gestern vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg nicht nur gescheitert. Sie ist regelrecht in der Luft zerrissen worden. "Aus der Gesamtheit dieser Daten könnte man sehr genaue Schlüsse auf das Privatleben der Personen, deren Daten auf Vorrat gespeichert werden, ziehen, etwa auf Gewohnheiten des täglichen Lebens, ständige oder vorübergehende Aufenthaltsorte, tägliche oder in anderem Rhythmus erfolgende Ortsveränderungen, ausgeübte Tätigkeiten, soziale Beziehungen und das soziale Umfeld", heißt es in dem Urteil. Die Speicherdauer von mindestens sechs Monaten bis höchstens zwei Jahren sei "unverhältnismäßig". Der "besonders schwere Eingriff" in die Privatsphäre werde nicht auf das "absolut Notwendige beschränkt".

"Die Vorratsdatenspeicherung gehört in die Geschichtsbücher", jubelte die FDP-Politikerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die sich als Justizministerin bis 2013 gegen ein deutsches Gesetz gewehrt hatte. Ihr SPD-Nachfolger Heiko Maas sah gestern "jetzt keinen Grund mehr, schnell einen Gesetzentwurf vorzulegen". Die Richter hätten entschieden, dass die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung gegen die Grundrechte der Menschen in Europa verstößt. "Damit ist eine neue Situation eingetreten", erklärte Maas: "Die Grundlage für die Vereinbarung im Koalitionsvertrag ist entfallen."

Bürgerrechtler und Internetnutzer, die das Gesetz immer als "Ende der Privatsphäre" bezeichnet hatten, die alle bisherigen Überwachungsmaßnahmen "in den Schatten stellt", waren gestern zufrieden. 2006 hatte die EU die Richtlinie erlassen. Man fühlte sich nach den Anschlägen in Madrid 2004 und London 2005 berechtigt, die pauschale Überwachung aller Bürger auszurufen. Fortan sollten jedes Telefonat, jede Mail, jede SMS, jeder Internet-Kontakt aufgezeichnet und von den Providern gespeichert werden, um bei Bedarf den Sicherheitsbehörden zur Verfügung zu stehen. "Wir waren der Meinung, dass wir alle Informationen brauchen, um jede Gefahr auszuschließen", hieß es im Schatten der beiden Terrorakte mit 247 Todesopfern. "Uns war aber schon damals klar, dass es ein gewagter Eingriff war", sagte gestern ein Vertreter der Kommission.

Zu gewagt. 2010 cancelte das Bundesverfassungsgericht die deutsche Gesetzesvorlage - übrigens mit nahezu gleichlautenden Begründungen wie jetzt der Europäische Gerichtshof. In beiden Fällen bejahten die Richter die "Zielsetzung, die dem Gemeinwohl dient, und zwar der Bekämpfung schwerer Kriminalität und somit letztlich der öffentlichen Sicherheit". Doch, so die Luxemburger Juristen, der "Unionsgesetzgeber hat beim Erlass die Grenzen überschritten, die er zur Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit einhalten musste".

In Brüssel beginnt nun das Aufkehren der Scherben. Aus dem Innenkommissariat hieß es, man werde die schriftliche Begründung aus Luxemburg abwarten, um dann ein neues Gesetz zu schneidern. Das Gleiche wird wohl auch die Bundesregierung tun. Der Europäische Gerichtshof hat einen Rahmen angedeutet: Demnach darf künftig nur überwacht werden, wer im Verdacht steht, schwere Straftaten oder Terror-Akte vorzubereiten oder zu unterstützen. Ein Richter muss den "Lauschangriff" billigen. Maximal drei Monate dürfen die Daten gespeichert bleiben. Dann müssen sie, rechtlich nachprüfbar, gelöscht werden.

Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) war einer der wenigen, der sich unmittelbar nach dem Urteil für ein neues Gesetz aussprach. "Ich dränge auf eine rasche, kluge, verfassungsmäßige Neuregelung", sagte er gestern in Berlin. Mit der bisherigen Vorratsdatenspeicherung dürfte das dann kaum noch etwas zu tun haben.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort