Von Opfern und Märtyrern

München · Der Münchner NSU-Prozess geht heute weiter. Dort werden Angehörige der Opfer genauso gehört wie jene der Täter. Doch den Eltern des Trios scheint die Verteidigung ihrer Söhne wichtiger zu sein als die Aufklärung.

Sie haben Menschen verloren, die sie liebten: ihre Väter, Brüder, Ehemänner oder Söhne. Sie kennen Verzweiflung und Ungewissheit. Und sie finden sich in einem Strafprozess wieder, der auf ihre Empfindungen wenig Rücksicht nehmen kann. Es gibt Gemeinsamkeiten zwischen den Angehörigen der Opfer des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) und den Familien der Täter.

Als Ismail Yozgat am 1. Oktober vor dem Oberlandesgericht in München erscheint, ist das nicht einfach ein Zeugenauftritt. Es ist eine Anklage: "Ich bin Ismail Yozgat, der Vater des 21-jährigen Halit Yozgat, des Märtyrers, der am 6. April 2006 durch zwei Schüsse erschossen wurde und in meinen Armen gestorben ist", sagt der 58-Jährige. "Wir befinden uns hier zwecks der Gerichtsverhandlung gegen die Angeklagten, die wegen des Todes unseres Sohnes, unserer Väter, der Polizeibeamtin, die alle auch Märtyrer sind. . ."

An diesem Punkt versucht der Vorsitzende Richter, Yozgat wieder auf die richtige Spur zu bringen - die Spur jedenfalls, welche die Strafprozessordnung für Angehörige vorgesehen hat: "Sie sind hier auch Zeuge", sagt Manfred Götzl. "Und ich habe Sie gebeten, hier zu einem bestimmten Beweisthema zu berichten."

Selten wurde es in diesem Prozess so deutlich wie bei Yozgats Auftritt: Die Angehörigen wollen Aufklärung, vielleicht Strafe - aber auch ein Forum, in dem sie gehört werden mit ihrem Schmerz und mit ihrer Empörung. Denn schließlich gerieten fast alle Familien selbst unter Verdacht, wurden mehrfach verhört, teilweise heimlich abgehört oder mit erfundenen Beschuldigungen konfrontiert.

Doch auch die Angehörigen der Täter sind empört. Bislang waren Annerose Zschäpe, Brigitte Böhnhardt und Siegfried Mundlos als Zeugen geladen - Eltern der drei mutmaßlichen Terroristen. Beate Zschäpes Mutter verweigert die Aussage - das darf sie als Angehörige der Hauptangeklagten. Die Eltern von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt dürfen das nicht - ihre Söhne haben sich erschossen. Sie müssen aussagen. Auch Brigitte Böhnhardt und Siegfried Mundlos kommen nicht einfach als Zeugen. Sie verteidigen ihre Söhne. Und sie klagen an: den Staat, den Verfassungsschutz, die Gesellschaft. Mit einem gewissen Trotz tritt Brigitte Böhnhardt vor Gericht. Welche Entwicklung ihr Sohn genommen habe, will Richter Götzl wissen, eine offene Einstiegsfrage. "Was möchten Sie da hören?", fragt die ehemalige Lehrerin zurück. Brigitte Böhnhardt sagt nur, was sie muss,. Selbst als sie den Angehörigen ihr Mitgefühl ausspricht, hat das etwas Trotziges, so als wollte sie dem Richter sagen: Sie verstehen überhaupt nichts davon. "Ich bin wohl in der Position, leider, wo ich diese Familien am besten verstehen kann." Doch ihr scheint nicht klar zu sein, dass sie jetzt vor allem eines für Opferfamilien tun könnte: zur Aufklärung beitragen; alles sagen, was sie weiß. Stattdessen verdächtigt sie die Polizei, ihrem Sohn belastendes Beweismaterial untergeschoben zu haben.

Auch Siegfried Mundlos sagt gleich zu Beginn, er sei "nicht nur Zeuge, ich bin ja auch Verletzter mit meiner Familie". Er beschuldigt vor allem den Verfassungsschutz, der die rechte Szene gefördert habe. Den Bombenfund in der Jenaer Garage des Trios bezeichnet er als "Propagandalüge". Schließlich sieht er seinen Sohn und dessen Komplizen sogar in einer Reihe mit den Opfern: "Es sind zehn Tote zu beklagen. Das heißt: eigentlich zwölf Tote."

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