Von einem Verbot, das keines ist"Was soll ich denn tun, wenn es keinen Aufzug gibt?""Mit dem Aufzug ist man auf der sicheren Seite"

Brüssel. Bedrohlich klingt das Kürzel "EN 115" nicht. Dennoch raubt es seit Jahresanfang vielen Stadtoberen in Deutschland den Schlaf

Brüssel. Bedrohlich klingt das Kürzel "EN 115" nicht. Dennoch raubt es seit Jahresanfang vielen Stadtoberen in Deutschland den Schlaf. So zeigten sich die Düsseldorfer Verkehrsbetriebe "Rheinbahn" am Jahresanfang auf die neue Sicherheitsnorm der EU gänzlich unvorbereitet und klagten laut darüber, dass zahlreiche U-Bahn-Stationen für Mütter mit Kleinkindern nicht mehr erreichbar sein würden. In München versprach man eilfertig, die noch fehlenden Piktogramme möglichst rasch an allen Rolltreppen anzubringen. Als Erste hatten die Nürnberger Verkehrsbetriebe gemerkt, was da aus Brüssel anrollte: Mit der so genannten Maschinenrichtlinie seien auch die Sicherheitsnormen angepasst worden, hieß es. Darunter auch die Nummer "EN 115", die fortan das Benutzen von Rolltreppen für Kinderwagen verbiete.

Während sich die Unternehmen gegenseitig ansteckten und um schnelle Anpassung ihrer rollenden Treppen bemüht waren, fassten sich die Bürger an den Kopf und fragten sich in Internet-Foren kopfschüttelnd, ob die "in Brüssel jetzt total bekloppt" seien. Dort aber beteiligte man sich am Kopfschütteln und konnte weder die deutsche Aufregung noch die Verunsicherung verstehen: "Es geht nicht um ein Verbot", mühte sich Ton van Lierop, der Sprecher von Industrie-Kommissar Günter Verheugen, klarzustellen.

Tatsächlich gibt es zwar die neue Richtlinie, die auch veränderte Sicherheitsnormen enthält. Von einem Kinderwagen-Verbot kann aber gar keine Rede sein. Stattdessen wird - ausschließlich für neue - Rolltreppen lediglich ein Piktogramm gefordert, das Mütter mit Kinderwagen auf eventuelle Risiken bei der Benutzung hinweist. Das ist aber nicht mehr, als bisher schon in der deutschen Sicherheitsnorm enthalten ist.

Bei den Prüfstellen stößt die Aufregung ebenfalls auf Unverständnis. "Die Technik der Rolltreppen ist längst sehr ausgefeilt", heißt es beim TÜV Rheinland, der einmal im Jahr alle so genannten "Fahrtreppen" unter die Lupe nimmt. Die betriebsinternen Prüfungen finden weitaus häufiger statt. Statistiken über Unfälle auf Rolltreppen werden nicht geführt. In Österreich hat das Kuratorium für Verkehrssicherheit nachgezählt und ist auf 900 Vorfälle gekommen. 87 Prozent davon sind Stürze. Jeder zweite Verletzte ist älter als 60 Jahre, die meisten anderen jünger als vier. Von einer Risikogruppe "Kinderwagen" kann aber keine Rede sein.

Dennoch gaben sich allerlei Fachleute seit Jahresanfang viel Mühe, für die angebliche Neuregelung Begründungen zu finden. So teilten die Berliner Verkehrsbetriebe mit, das Rolltreppenverbot sei von der EU zum Schutz der Kinder erlassen worden. Bei einem plötzlichen Nothalt müsse nämlich damit gerechnet werden, dass Vati oder Mutti das Gefährt nicht fest genug hielten und der Nachwuchs herausgeschleudert werden könne. Mit dieser Begründung könnten Rolltreppen generell verboten werden. Denn wer steht schon - jederzeit auf einen Notstopp vorbereitet - auf einem aufwärts fahrenden Band?

Wer trotzdem um seine rollende Sicherheit besorgt ist, dem empfehlen die TÜV-Experten in erster Linie, die Treppenstufen stets in der Mitte zu betreten. Ein Tipp, mit dem man in jeder U-Bahn-Station zum Konfliktfall wird. Gilt doch da der unausgesprochene Grundsatz "rechts stehen, links gehen". Zuwiderhandlungen werden nicht selten mit Remplern bestraft, die die Rolltreppe dann wirklich zum Risiko machen. Saarbrücken. Was halten Eltern im Saarland von der neuen EU-Sicherheitsnorm, nach der auf Gefahren beim Benutzen von Rolltreppen mit Kinderwagen hingewiesen werden muss? Die SZ hat Passanten in Saarbrücken befragt.

"Ich kann Rolltreppen mit dem Kinderwagen ohne Probleme befahren und mache es meistens auch, denn die Aufzüge sind viel zu voll", sagt Jessica Müller (22, Fotos: b&b) aus Saarbrücken. Sandra Busch (20) begrüßt die Sicherheitsnorm. Sie findet, dass Aufzüge für die Kinder in Kinderwagen viel sicherer seien als Rolltreppen. "Wenn keine Aufzüge vorhanden sind, werde ich allerdings auch in Zukunft die Rolltreppe mit dem Kinderwagen benutzen", sagt die Saarbrückerin. Ähnlich sieht es Stefanie Busch (23). "Was soll ich denn tun, wenn es keinen Aufzug gibt? Diese Geschäfte nur ohne den Kleinen betreten?"

Judith Mahler, Restaurantfachfrau aus Völklingen, blickt der neuen Norm positiv entgegen. "Ich war sowieso die ganze Zeit der Meinung, dass ich mit dem Kinderwagen Rolltreppen gar nicht betreten darf. Bevor meinem Kind auf der Rolltreppe etwas passiert, nehme ich lieber längere Wartezeiten in Kauf und fahre mit dem Aufzug." So hält es auch Arzthelferin Sylvana Roccaforte (34) aus Heusweiler, gesteht aber, "dass ich es trotz aller Gefahr schon ein Mal gemacht habe".

Gefahren beim Rolltreppefahren mit Kinderwagen sieht auch Nicole Schwartz (37) aus Brebach. "Das habe ich die ganze Zeit über schon den anderen Müttern gesagt. Aber viele Kaufhäuser haben gar keine Aufzüge", erzählt sie. Manchmal bekäme sie von netten Mitarbeitern angeboten, den Lastenaufzug zu nehmen. "Das sind aber wirklich Sonderfälle." bub

Saarbrücken. Rolltreppe oder Aufzug? "Wer mit einem Kinderwagen unterwegs ist, sollte nach Möglichkeit mit einem Aufzug fahren", rät Matthias Müller vom Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) in Berlin. "Mit dem Aufzug sind Sie auf der sicheren Seite." Erstens sei dies sicherer, zweitens umgehe man so mögliche Streitereien im Falle eines Unfalls. Verboten ist das Befahren einer Rolltreppe mit Kinderwagen grundsätzlich nicht, auch wenn nach GDV-Auskunft seit dem 29. Dezember des vergangenen Jahres die aktualisierte EU-Norm "EN 115" gilt. Diese europäische Norm schreibt nach EU-Angaben lediglich vor, dass auf die Gefahren bei der Nutzung einer Fahrtreppe mit dem Kinderwagen hingewiesen werden muss. Einige Betreiber haben deshalb schon Rolltreppen mit entsprechenden Warnhinweisen versehen. Streng genommen gilt die Norm aber nur für Rolltreppen, die neu in Betrieb genommen werden. Was tun, wenn dennoch ein Unfall mit Kinderwagen passiert? "Wenn der Kinderwagen nicht der Grund für den Unfall war, greift die Betriebshaftpflicht des Betreibers", sagt GDV-Sprecher Müller. War dagegen der Kinderwagen die Ursache, geht der Fall an die Unfallversicherung des Verursachers. Genaue Zahlen zu solchen Unfällen liegen auch dem Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft nicht vor. Dies komme so selten vor, dass man nicht mal eine so genannte "Wagnissumme" aufgestellt habe.

In den meisten Fällen seien die geschädigten Personen mehr als 60 Jahre alt, sagt Müller. Dies liege daran, dass manche Rolltreppen für ältere Menschen einfach zu schnell liefen. Bislang sei nur ein Unfall tatsächlich tödlich verlaufen.

Meinung

Deutsche wollen für alles Regeln

Von SZ-Korrespondent

Detlef Drewes

Die Brüsseler Kommissionsbeamten können über Unfug wie das Rolltreppenverbot für Kinderwagen kaum noch lachen. Zu ärgerlich erscheint ihnen, dass man ihnen vor allem in Deutschland offenbar jeden Blödsinn zutraut. Die Karriere einer Sicherheitsnorm von einer vernünftigen Empfehlung hin zu einer alle drangsalierenden Vorschrift ist allerdings besonders beachtlich. Vermutlich entspricht sie auch einem sehr deutschen Bedürfnis, wirklich alles regeln zu wollen.

Rolltreppen sind eine technische Einrichtung, die genau wie andere auch Risiken bergen. Ja, es gibt Unfälle wie Quetschungen und sogar Strangulationen, weil Benutzer mit ihrer Kleidung zwischen Stufen gerieten. Einschlägige Unfallberichte muss man allerdings suchen. Trotzdem werden wir uns demnächst an noch mehr Piktogrammen erfreuen, die noch weniger Beachtung finden. Eine Welt voller Verbote wird nämlich nicht sicherer, sondern nur unverständlicher. Und wer sich über mutmaßlich leichtfertige Mütter, die mit ihren Buggys eine "Fahrtreppe" benutzen, ärgert, kann ja überlegen, ob er lieber hilft statt schimpft.

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