Vom Buchhändler zum Präsidenten

Wer Martin Schulz in den vergangenen Tagen im Internet besuchen wollte, musste sich bis heute gedulden: Die persönliche Web-Seite wurde auf den aktuellen Stand gebracht. Denn seit Samstag ist der Präsident des Europäischen Parlamentes auch der Spitzenkandidat aller – wie es offiziell heißt – „32 sozialdemokratischen und Arbeiterparteien“ in der EU für die Europawahl.

Die Nummer eins nimmt Kurs auf das große Ziel am 25. Mai: Dann will er die europäischen Sozialisten zur stärksten Kraft in der Straßburger Volksvertretung machen und anschließend zum Präsidenten der EU-Kommission gewählt werden. Schulz wäre nicht Schulz, wenn er nicht fest davon überzeugt wäre, dass die Angelegenheit gut für ihn ausgeht. Obwohl der 58-jährige gelernte Buchhändler aus Hehlrath bei Aachen reichlich Gegner hat: Erst vor wenigen Wochen wühlte er die Knesseth, das Parlament in Jerusalem, mit einem Vergleich über den Wasserverbrauch von Israelis und Palästinensern auf.

Bekannt wurde Schulz, als er 2003 den damaligen EU-Ratspräsidenten Silvio Berlusconi bei seiner Antrittsrede im Europäischen Parlament mit Zwischenrufen so sehr nervte, dass der römische Imperator Schulz vorschlug, er solle die Rolle eines Aufsehers in einem KZ-Film übernehmen, der gerade in Italien gedreht wurde. Es blieb nicht der einzige Fehlgriff, den der verheiratete Vater von zwei Kindern erdulden musste.

Als die EU-Abgeordneten Schulz im Januar 2012 zum Parlamentschef kürten, kündigte er an: "Ich werde kein bequemer Präsident sein." Auch da hielt er Wort und legte sich mit jedem an, der ihm in die Quere kam: Unmittelbar nach der Einigung der Euro-Finanzminister zur Banken-Union sagte er, dieser Kompromiss werde im Parlament nicht bestehen.

Kämpferisch, wortgewaltig - so beschreiben ihn sogar seine Gegner von der konservativen Mehrheitsfraktion. Ihm gelang, was kein Parlamentspräsident vorher schaffte: Er holte die europäische Abgeordnetenkammer aus der Vergessenheit in die Schlagzeilen. "Ich bin ein einfacher Junge vom Lande", erzählt jener Martin Schulz dagegen eher still und bescheiden, den nur wenige kennen. Wo immer der Mann in diesen Wochen auftritt, bekommen Freunde, Parteigenossen und Gäste ganz und gar unerwartete Töne zu hören. Dann berichtet der bekennende Fußball-Fan und Anhänger des 1. FC Köln über seine Kindheit im Drei-Länder-Eck, das heute Euregio heißt, wo Deutschland, die Niederlande und Belgien zusammenstoßen. Er erzählt von Besuchen an Gräbern, in denen seine Vorfahren beerdigt wurden, die in den Weltkriegen ums Leben kamen. Und hebt zu einer begeisterten Rede über Europa an. Schulz, der mit 19 in die SPD eintrat und mit 31 Jahren zum Bürgermeister von Würselen gewählt wurde, sei ein klassischer Oppositionspolitiker, heißt es bei Konservativen, Liberalen und Grünen. "Der ist immer gegen etwas", werfen sie ihm vor. So jemand eigne sich nicht zum Visionär an der Spitze der Kommission. Seitdem der Wahlkampf näher rückt, wird die Kritik lauter. Beispielsweise an einem großen Plakat vor dem Besucher-Eingang des Brüsseler Parlamentes, das Schulz überlebensgroß zeigt und Züge von Selbstdarstellung hat. Doch Schulz lässt solche Kritik an sich abprallen und trommelt weiter für seine Botschaft von einer EU, die sich nicht darin erschöpft, Glühlampen auszuwechseln und sich um Klo-Spülungen zu kümmern. Er will das "Europa der Eliten" abschaffen und wehrt sich dagegen, dass die Staats- und Regierungschefs immer öfter Entscheidungen unter sich ausmachen und die Volksvertreter aussperren. Auf den Wahlkampf freut sich Schulz, der fließend Englisch und Französisch spricht. Obwohl er noch nicht weiß, auf wen er sich als Gegenkandidaten einstellen muss. Die Konservativen bestimmen ihren Hoffnungsträger erst Ende kommender Woche.

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HintergrundGrößter Gegenspieler der europäischen Sozialdemokraten ist die Europäische Volkspartei (EVP), ein Zusammenschluss konservativer Parteien. Als Favoriten für deren Spitzenkandidatur gelten der frühere luxemburgische Premier Jean-Claude Juncker (59) und der kürzlich zurückgetretene lettische Ministerpräsident Valdis Dombrovskis (42). Nun bewirbt sich aber auch der französische EU-Binnenmarktkommissar Michel Barnier (63) um die Spitzenkandidatur. Das teilte die konservative EVP in Brüssel mit. Barnier werde von seiner Partei, der UMP, von der ungarischen Fidesz und der slowenischen NSI unterstützt. Die EVP will über den Spitzenkandidaten am 6. und 7. März in Dublin entscheiden. dpa

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