Vermächtnis gegen die Langmut

Berlin. Selbst im Knast prügeln Yilmaz und Hussein weiter. Auch hinter Gittern haben sie Handys und Cannabis - aber null Mitleid mit ihren Opfern. Zur Schule gingen die jungen Kriminellen nur gelegentlich. Es sind keine Einzelfälle, die die bundesweit bekannte Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig in ihrem Buch "Das Ende der Geduld" beschreibt

Berlin. Selbst im Knast prügeln Yilmaz und Hussein weiter. Auch hinter Gittern haben sie Handys und Cannabis - aber null Mitleid mit ihren Opfern. Zur Schule gingen die jungen Kriminellen nur gelegentlich. Es sind keine Einzelfälle, die die bundesweit bekannte Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig in ihrem Buch "Das Ende der Geduld" beschreibt. Anfang Juli wurde die Leiche der 48-Jährigen im Tegeler Forst gefunden. Offenbar hatte sich die resolute Frau das Leben genommen - kurz nach dem Abschluss der Arbeit zu ihrem ersten Buch. Heisigs Freitod ließ viele Menschen ratlos zurück. Jetzt ist ihr harter Alltagsbericht über den Kampf gegen Jugendkriminalität erschienen. Immer brutalere Attacken von Jugendlichen ohne jegliche Hemmschwelle seien ein Problem in vielen Großstädten, schrieb Heisig. Als Richterin war sie für den Berliner Problemkiez Neukölln mit einem großen Ausländeranteil und hoher Arbeitslosigkeit zuständig. Heisig initiierte das Neuköllner Modell, nach dem junge Kriminelle in beschleunigten Prozessen verurteilt und zur Vernunft gebracht werden sollen. Es war ihre Mission. Heisig glaubte an Auswege, Besserung und Zusammenarbeit. Doch gehörte wohl eine große Portion Leidensfähigkeit dazu, an manchen Tagen fast im Stundentakt Straftäter vor sich im Gericht zu haben und daneben in Vereinen und Schulen für Integration zu werben. Die Gründe für ihren Selbstmord sollen aber im persönlichen Bereich liegen. Die meisten der rund 550 bei der Berliner Staatsanwaltschaft registrierten Intensivtäter (mindestens zehn Straftaten im Jahr) sind in Neukölln unterwegs und haben einen Migrationshintergrund, schrieb Heisig. Die Jungen würden von ihren Müttern extrem verwöhnt, bekämen keine Grenzen gesetzt. Die türkischen oder arabischen Eltern suchten die Schuld für Fehlentwicklungen meist im deutschen System. "Schwer kriminelle Jugendliche können durch elterliches Versagen und unter den Augen der geduldig abwartenden staatlichen Institutionen heranwachsen", stellte Heisig fest. Die Richter seien am Ende dieser Kette nur eine Art Reparaturbetrieb - mit mäßigem Erfolg. Doch frühere oder höhere Strafen würden nicht helfen, denn Gefängnis mache junge Menschen nicht besser. Die drastische und zum Teil pauschalisierende Analyse der leidenschaftlichen Juristin hat bereits kontroverse Debatten ausgelöst - wie die über geschlossene Heime, wofür auch Heisig plädierte: "Alles andere ist pseudoliberale Heuchelei." Mit Widerspruch hatte Heisig schon beim Schreiben des Buches gerechnet. Just dieser Tage wurde in Berlin zum wiederholten Male ein elf Jahre alter Drogendealer gefasst. Da er noch nicht 14 ist, kann er nicht bestraft werden. Die Behörden würden zusehen, wie dafür Kinder und Jugendliche aus palästinensischen Flüchtlingslagern in die Bundesrepublik geschleust würden, kritisierte Heisig. Der Handel mit harten Drogen sei in vielen Teilen Deutschlands fest in der Hand arabischer Großfamilien, die eigentlich libanesische Kurden seien. Es gebe Zuwanderer, die nie vorhatten, sich in Deutschland einzufügen, sondern schon immer in parallelen, kriminellen Strukturen lebten und die deutsche Werteordnung verachteten, so Heisig, die von Kritikern als "Richterin Gnadenlos" bezeichnet wurde. "Integration ist ein Vertrag auf Gegenseitigkeit." Der Sozialstaat sei kein Selbstbedienungsladen ohne Gegenleistung. Das Erlernen der deutschen Sprache müsste als Verpflichtung festgeschrieben werden, forderte Heisig. "Wer hierfür plädierte, wurde jedoch schnell der Zwangsgermanisierung bezichtigt." Mit staatlichen Institutionen ging Heisig, der ihr Erfolg auch zu schaffen machte, hart ins Gericht. "Wir leben in einer Gesellschaft, in der an den Problemen bewusst vorbeigeschaut wird: aus Tradition seitens der Zuwanderer, aus Bequemlichkeit und Angst seitens der Deutschen." Vieles in der Prävention sei auf halbem Wege stehen geblieben, eine Einrichtung warte auf die Reaktion der anderen. Dabei sei Kooperation das A und O. Auf der anderen Seite gebe es zu viele Kurse und Trainings für Gewalttäter nach dem Motto "Viel hilft viel", selbst Richter hätten keinen Überblick mehr. Für Heisig ist mangelnde Bildung eine Hauptursache von Jugendkriminalität. Jugendamt, Schule und Eltern müssten dafür sorgen, dass die Heranwachsenden zur Schule gingen, appellierte Heisig, die zwei Töchter hinterließ. Wenn Eltern nicht kooperieren, sollten Bußgelder verhängt oder das Kindergeld gekürzt werden. Ob das Vermächtnis der Richterin Veränderungen anstößt, wird sich zeigen. "Wir müssen uns gemeinsam Gedanken darüber machen, wie es in dieser Gesellschaft weitergehen soll. Und wir müssen handeln. Jetzt", mahnte sie. Die Debatte werde auch schmerzhaft sein. "Deutschland wird sie aushalten - und mich auch", hatte Heisig noch geschrieben.Kirsten Heisig: "Das Ende der Geduld - Konsequent gegen jugendliche Gewalttäter", Verlag Herder, Freiburg, 14,95 Euro "Wir lebenin einer Gesellschaft,in der an den Problemen bewusst vorbeigeschaut wird."Kirsten HeisigMeinung

Ein Appell an die Gesellschaft

Von SZ-RedakteurBernard Bernarding Kirsten Heisig verkörperte genau das, was die Gesellschaft braucht und die Politik predigt: eine starke soziale Persönlichkeit mit leidenschaftlichem Engagement. Die Frage, warum diese Jugendrichterin prominent wurde und bundesweit Aufmerksamkeit "erregte", beantwortet sich leicht: Weil sie ein Problem analysierte und artikulierte, das der Gesellschaft (vor allem in Städten) unter den Nägeln brennt - und das diese dennoch gern ausblendet. Die Chuzpe, mit der jugendliche Straftäter "mit Migrationshintergrund" im Rechtsstaat Bundesrepublik oft auftreten, hat ihre fatale Entsprechung in der beängstigenden Hilflosigkeit, mit der deutsche Behörden auf die kriminellen Zumutungen reagieren. Heisigs mutiges Buch ist auch ein Appell an Politik und Gesellschaft, endlich Konsequenzen zu ziehen - und sich im Interesse des Gemeinwohls auch mal über die Bedenken der Allesversteher und Total-Toleranzler hinwegzusetzen.

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