Venezuela Tag eins für Venezuelas „Parallel-Parlament“

Caracas · Ohne Gnade und Kompromissbereitschaft treibt der venezolanische Staatschef Nicolás Maduro den befürchteten Umbau zu einer Diktatur voran.

Soldaten sichern das Gebäude, das zum Symbol für den Kampf um Venezuelas Demokratie geworden ist: Mit dem Einzug von 545 Mitgliedern der Verfassungsgebenden Versammlung beginnt an diesem Freitag in Caracas eine neue politische Zeitrechnung. Die Versammlung tagt in der Nationalversammlung, dem Sitz des im Dezember 2015 gewählten Parlaments. Dort hat das aus 20 Parteien bestehende Oppositionsbündnis „Mesa de la Unidad Democrática“ (MUD) eine Zwei-Drittel-Mehrheit.

Der sozialistische Präsident Nicolás Maduro spricht von einer „Versammlung des Friedens“, um nach mehr als 120 Toten wieder Ruhe und Ordnung im Land mit den größten Ölreserven der Welt herzustellen. Der seit 2014 stark gefallene Ölpreis, Misswirtschaft und Korruption haben das Land ruiniert, Schlangen vor oft leeren Supermärkten und Apotheken prägen das Bild, Bäckereien haben oft kein Mehl mehr, um Brot zu backen, Menschen suchen überall im Müll nach Essensresten. Maduro gibt dem Ölpreis und einem Wirtschaftskrieg des Auslands die Schuld.

Um einen blutigen Konflikt zu vermeiden, sicherten Nationalgarde und Polizei das Gebäude. Aber auch Anhänger der Sozialisten, die immer wieder Gegner angreifen und zusammenschlagen, sogenannte Colectivos, wurden in der Nähe gesichtet. Anfang Juli hatte ein Mob das Gebäude gestürmt und mehrere Abgeordnete teils mit Latten zusammengeschlagen. Parlamentspräsident Julio Borges sagte, die Sicherheitskräfte „verlieren nur ihre Zeit, wenn sie den Salón Elíptico im Palast der Legislative für diesen Verfassungsbetrug einnehmen“. Dort soll die konstituierende Sitzung stattfinden. Das Gebäude mit der goldenen Kuppel im Zentrum von Caracas, auch Bundeskapitol genannt, ist seit 56 Jahren immer der Sitz der gewählten Volksvertretung gewesen.

Mit dem Schritt wird das Parlament de facto entmachtet, es war in den vergangenen Monaten schon weitgehend wirkungslos, da Maduro mit Dekreten daran vorbeiregierte. Die Verfassungsgebende  Versammlung wird eine Art Parallel-Parlament – und könnte das eigentliche Parlament dauerhaft verdrängen. Es bekommt für die kommenden Monate alle Vollmachten und soll die neue Verfassung erarbeiten. Maduro wird ab sofort freie Hand haben. Mit einem Eilantrag wollte Generalstaatsanwältin Luisa Ortega Díaz die Einberufung der Versammlung noch stoppen. Sie reichte bei einem Gericht in Caracas einen entsprechenden Antrag ein und begründete dies mit den Vorwürfen, die Wahlbeteiligung sei manipuliert worden. Dies hatte die für die Wahlcomputer zuständige Firma Smartmatic unter Verweis auf Serverdaten mitgeteilt. Es hätten nicht die offiziell verkündeten 8,1 Millionen abgestimmt. Schätzungen gehen von 2,4 bis knapp vier Millionen aus. Wahlberechtigt waren 19,4 Millionen.

Es galt als wenig wahrscheinlich, dass der Antrag Erfolg hat. Ortega ist zur erbitterten Gegenspielerin Maduros geworden. Sie soll rasch abgesetzt werden, in sozialen Medien wird von Regierungsanhängern gegen Ortega gehetzt. Der MUD hatte die Wahl boykottiert, da man den Umbau zur Diktatur fürchtet und Parteivertreter nicht kandidieren durften. Dennoch finden sich viele Mitglieder der Sozialistischen Partei in dem Gremium wieder, sie mussten vorher Partei- oder Regierungsämter niederlegen. Die Beteiligung ist Gradmesser für den Rückhalt zu den Plänen. Als Kandidatin für den Vorsitz der Versammlung gilt Maduros Ehefrau Cilia Flores. Auch sein Sohn Nicolás Maduro Guerra wird Mitglied der Versammlung.

Die Opposition rief zur Verteidigung des Parlaments auf. Für Freitag sind neue Massenproteste geplant. Das auf Konfliktstudien spezialisierte Institut Observatorio Venezolano de Conflictividad Social hat in den vergangenen vier Monaten 6729 Demonstrationen gezählt – 56 am Tag.

Maduro will auch härter gegen die Justiz vorgehen. Zudem soll die Immunität der Abgeordneten aufgehoben werden: Damit drohen Oppositionspolitikern, die Proteste gegen Maduro organisieren, lange Haftstrafen. Die EU, USA und viele Länder Lateinamerikas lehnen die Versammlung als „illegal“ ab und fordern die Freilassung politischer Gefangener.

(dpa)
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