Juristische Premiere VW ist Ursache und Testfall für Musterklagen

Berlin/Frankfurt · Im Abgas-Skandal reichten die Verbraucherzentralen gestern im Namen mehrerer Geschädigter Klage ein – eine juristische Premiere.

246 Seiten und ein piepsendes Faxgerät: Die Anwälte, die in der Nacht zu gestern die Musterfeststellungsklage der Verbraucherzentralen gegen Volkswagen einreichten, brauchten Geduld. Kurz nach Mitternacht begannen sie, ihre dicke Klageschrift zu faxen. Zweimal schlug das Ganze fehl, erst im dritten Versuch kamen die Unterlagen durch. 36 Minuten dauerte es, bis Seite für Seite alles bei Gericht war – bis fast zwei Uhr nachts.

Es war eine juristische Premiere in Deutschland – die bundesweit erste Musterfeststellungsklage. Das Prinzip lautet: Eine Klage für alle. Wenn Verbraucher sich von Unternehmen betrogen fühlen, mussten sie bisher allein vor Gericht ziehen. Die Kosten und das Risiko zu verlieren, hat viele abgeschreckt oder abwinken lassen. Nun ist es für Verbraucher leichter, ihre Ansprüche gerichtlich durchzusetzen.

VW ist sowohl Ursache als auch erster Testfall für die Musterklage. Weltweit hat der Autobauer mit seiner Betrugssoftware Millionen Käufer von Dieselautos getäuscht. Doch die Konsequenzen waren je nach Land sehr unterschiedlich. Während Dieselkäufer in den USA bis zu 10 000 Dollar Wiedergutmachung bekamen und Volkswagen zusätzlich die Autos zurückkaufte oder umrüstete, wurden die meisten deutschen Dieselbesitzer bislang nur für Software-Updates in die Werkstatt zitiert. Schadenersatz bekamen die wenigsten, und auch nur, nachdem sie eigenständig geklagt hatten. Viele weitere haben ihre Klagen verloren.

Der Grund dafür ist die unterschiedliche Rechtslage: In den USA sorgt die Sammelklage für Augenhöhe zwischen Konzernen und Verbrauchern. Dort schließen sich die Geschädigten zusammen und verhandeln einmal über den gesamten Schadenersatz mit dem Unternehmen. Beide Seiten werden dabei von Spezialanwälten vertreten, während sich das in Deutschland kaum ein Verbraucher leisten kann. Diese Ungleichheit sorgte für politischen Druck: Kurz bevor die Ansprüche der Dieselkäufer gegen Volkswagen verjähren, führte die Bundesregierung die Musterklage ein.

„Damit sind die Verbraucher sicher noch nicht auf Augenhöhe mit den Unternehmen“, sagt der Anwalt Ralf Stoll, der die klagenden Verbände Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) und ADAC gegen VW vertritt. Es handle sich dennoch um einen Meilenstein: „Jetzt haben wir die Möglichkeit, einmal Dinge feststellen zu lassen, die dann für alle gelten.“ Das sei für die Betroffenen kostenlos und erleichtere ihnen die Entscheidung über eine eigene Klage. Denn ein Musterprozess kann nur feststellen, ob die Voraussetzungen für Schadenersatz prinzipiell gegeben sind. Über die genaue Höhe müssen dann andere Gerichte entscheiden – wieder im Einzelfall.

Wer mitmachen will, muss sich nun in ein Klageregister beim Bundesamt für Justiz eintragen. Dafür genügt ein ausgefülltes Formular per E-Mail. Damit eine Musterklage überhaupt zugelassen wird, müssen sich innerhalb von zwei Monaten ab öffentlicher Bekanntmachung mindestens 50 Verbraucher in das Register eintragen.

Bei den Unternehmen hat die Musterklage wenig Fans. So warnt der Chef der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft, Bertram Brossardt: „Wir sehen die Gefahr, dass künftig häufig die Forderungen nicht im Verhältnis zu möglichen finanziellen Einbußen und dem drohenden Reputationsverlust des beklagten Unternehmens stehen werden.“

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