Übergewicht mit dickem Ende

Brüssel. Europas Volksvertreter schlagen Alarm: Jeder zweite erwachsene EU-Bürger ist zu dick, 22 Millionen Kinder und Jugendliche in der Gemeinschaft gelten als übergewichtig oder fettleibig. Die Folgen sind dramatisch: Herzkrankheiten, Schlaganfälle und Diabetes-2 sowie einige Krebserkrankungen gelten als vermeidbar

Brüssel. Europas Volksvertreter schlagen Alarm: Jeder zweite erwachsene EU-Bürger ist zu dick, 22 Millionen Kinder und Jugendliche in der Gemeinschaft gelten als übergewichtig oder fettleibig. Die Folgen sind dramatisch: Herzkrankheiten, Schlaganfälle und Diabetes-2 sowie einige Krebserkrankungen gelten als vermeidbar. Gestern verabschiedete das Europäische Parlament einen Aktionsplan, dessen Umsetzung anschließend den Mitgliedstaaten empfohlen wird. Doch erstmals bleiben die Abgeordneten nicht mehr nur bei Hinweisen wie gesündere Ernährung in den Schulen oder mehr Anreizen für Bewegung. "Angesichts der drohenden Folgen" müsse man auch über "drastische Schritte" nachdenken, heißt es in dem Beschluss. Dazu gehören nicht nur Werbebeschränkungen für ungesunde Produkte dort, wo Kinder bevorzugt angesprochen werden, sondern auch die Zusammenarbeit mit der Lebensmittel-Industrie. Sie soll, so fordern die Politiker, "bessere" Nahrungsmittel zur Verfügung stellen. Tatsächlich essen nämlich auch die Bundesbürger pro Tag nicht mehr nur die empfohlenen fünf Gramm Salz, sondern bis zu elf. Bei den Kalorien haben alle deutlich zugelegt: 1970 nahmen die Deutschen täglich rund 500 Kalorien weniger zu sich als heute. Die setzen an, denn mehr als fünf Stunden (332 Minuten am Tag) verbringen die Deutschen im Sitzen. Hinzu kommen zahlreiche ungesunde Bestandteile der Lebensmittel wie zum Beispiel industriell hergestellte Transfettsäuren, die durch das Härten von Pflanzenöl entstehen. Sie müssen nach dem Willen der Europa-Abgeordneten vollständig verboten werden. Außerdem sollen Fertiggerichte in kleineren Packungen in die Regale kommen, um bewusstes Essen zu fördern. Die Kennzeichnung müsse verbessert werden, auch wenn auf die Forderung nach einer Ampel auf der Verpackung - grün für "gesund", rot für "nur ab und zu essen" - verzichtet wurde. Die Lebensmittelhersteller warnen längst vor einer "Überfrachtung mit Pflichtinformationen". Generell aber gelte, heißt es in dem Parlamentsbeschluss: "Wir müssen mit der Industrie über bessere Lebensmittel reden." Gehe die derzeitige Entwicklung ungebremst weiter, bestehe die Gefahr, dass im Jahr 2020 mehr als jeder Fünfte EU-Bürger an Fettleibigkeit (Adipositas) erkrankt sei. Die wirtschaftlichen Auswirkungen seien "immens": Übergewicht plus Adipositas zusammen verursachen nach Hochrechnungen von 2005 derzeit Folgekosten von rund 81 Milliarden Euro - im Jahr. Verbesserungen sind aber nicht alleine durch Modellprojekte wie "Städte für eine gesunde Lebensweise" zu erreichen. Solche Pilotversuche, bei denen beispielsweise "Freizeitanlagen zu erschwinglichen Eintrittspreisen" angeboten werden, sollten die Mitgliedstaaten fördern. Der eigentliche Kampf gegen das Übergewicht aber müsse an einer ganz anderen Front geführt werden, fordern die Abgeordneten. Eine neue Studie der EU-Kommission belegt nämlich, dass Kinder und Jugendliche aus weniger aufgeklärten, unteren sozialen Schichten häufiger von Fettleibigkeit betroffen sind. Und auch bei den Erwachsenen gebe es einen "nachweisbaren Zusammenhang" zwischen Bildungsstand und Ernährungsbewusstsein sowie sportlicher Betätigung. Neben entsprechenden Projekten in den Schulen, bei denen auf Kosten der EU mehr Obst ausgegeben werden soll, will Brüssel "ungesunde" Nahrungsmittel aus Automaten verbannen und auch dafür sorgen, dass Veranstaltungen für Kinder und Jugendliche nicht länger von jenen Herstellern gesponsert werden dürfen, die Produkte mit hohem Zucker-, Salz- oder Fettgehalt anbieten. Von dem Boykott wären vor allem die Getränke-Hersteller betroffen. Außerdem müssten drei Stunden Schulsport pro Woche verpflichtend sein. Ob diese klugen Ratschläge umgesetzt werden, ist offen. Die Verantwortung dafür liegt nicht in Brüssel, sondern für Deutschland bei den Bundesländern. Meinung

Gesund als Werbebotschaft

Von SZ-Korrespondent Detlef Drewes Es geht nicht darum, ob "Dicke" gemütliche oder größere Genussmenschen sind. Die Rede ist von einem Lebensstil, der horrende gesellschaftliche Kosten und jede Menge individueller Risikofaktoren nach sich zieht. Der Appell aus dem Europäischen Parlament hebt sich in einem entscheidenden Punkt von bisherigen Forderungen wohltuend ab: Er geht tiefer. Sicherlich ist es richtig, die Zeitgenossen zu mehr Bewegung und gesünderer Ernährung aufzufordern. Und auch Ideen wie niedrigere Eintrittspreise für Freizeit-Einrichtungen verdienen Beachtung. Einen Durchbruch wird das alles aber ebenso wenig bringen wie Werbebeschränkungen am Rande von Kinderprogrammen. Ohne Mithilfe der Lebensmittel-Industrie, die lernen muss, auf gesunde Bestandteile unserer Nahrungsmittel zu achten, ist der Kampf nicht zu gewinnen. Das Parlament hat dabei einen wichtigen Hinweis geliefert: Gesunde Produkte (oder wenigstens Lebensmittel ohne ungesunde, krankmachende Bestandteile) werden mehr und mehr zu einem Kaufargument. Verbraucher, die auf ihre Gesundheit achten, sind ein lukrativer Markt, der bedient werden will. Es wird nicht darum gehen dürfen, bestimmte Lebensmittel zu verbieten - denn schließlich sind die krankmachenden Folgen immer auch eine Frage der Dosierung. Wichtiger ist es, dass die Hersteller spüren, wie groß das Bedürfnis nach bewusster Ernährung ist. Wenn es dann noch gelingt, irreführende Reklame mit nicht beweisbaren Heilsversprechungen auszumerzen, kann man am Ende sogar die dumme Forderung nach Werbeverboten fallen lassen. Auf einen BlickDer durchschnittliche EU-Bürger ist 1,69 Meter groß, wiegt 72,2 Kilo. Die Deutschen übertreffen alle: Sie sind 1, 71 Meter groß und wiegen 74,7 Kilo.Gesunde Ernährung scheint eher ein Anliegen der Frauen zu sein: 47 Prozent der EU-Bürgerinnen nennen das Thema wichtig, aber nur 42 Prozent der Männer.83 Prozent der EU-Bürger sind der Ansicht, dass ihre Ernährung gut sei, 21 Prozent behaupten sogar, sehr gut zu essen. 38 Prozent der EU-Bürger glauben, übergewichtig zu sein. Besonders unzufrieden sind Frauen (44 Prozent, Männer 32 Prozent). Die große Mehrzahl (55 Prozent) ist zufrieden mit dem eigenen Gewicht.73 Prozent der Bundesbürger sagen, es falle ihnen leicht, sich gesund zu ernähren, obwohl gleichzeitig 23 Prozent meinen, gesunde Nahrungsmittel schmeckten "fad".Jeder dritte EU-Bürger treibt keinen Sport. In Deutschland geben rund 24 Prozent an, sich regelmäßig zu bewegen. Die Zahlen sind einer Eurobarometer-Umfrage von 2006 entnommen. drHintergrundNur jeder siebte jüngere Deutsche greift einer repräsentativen Umfrage zufolge zu Bio-Lebensmitteln. Knapp 14 Prozent der 20- bis 29-Jährigen legen Wert auf ökologisch erzeugte Produkte, ermittelte die GfK Marktforschung in Nürnberg. Mehr als 43 Prozent dieser Altersgruppe gaben dagegen an, regelmäßig das Gegenteil von Bio-Kost zu sich zu nehmen: Mehrmals in der Woche essen sie demnach Fast Food wie Currywurst, Hamburger, Döner oder Pommes frites.Der Anteil der Biokost-Käufer ist vor allem bei den über 60-Jährigen höher: 29,9 Prozent von ihnen kaufen Öko-Ware. In der Bevölkerung insgesamt sind es 24,7 Prozent. Befragt wurden 2150 Menschen ab 14 Jahren im Auftrag der in Baierbrunn bei München erscheinenden "Apotheken Umschau". dpa

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