Tödliche Bürokratie

Berlin · Arm, Ausländer und auf der Hut – Hunderttausende in Deutschland wollen nichts mit Ämtern oder Ärzten zu tun haben. Das kann tödlich sein. Mediziner fordern weniger Hürden für Behandlungen.

Die 35-jährige Mazedonierin kam spät zum Arzt. Sie hatte bereits inneren Blutungen. Der Frauenarzt in Freiburg erkannte einen verschleppten Gebärmutterhalskrebs. "Bei deutschen Patientinnen müsste es die Krankheit so nicht mehr geben", sagt Ulrich Clever. Doch der Krebspatientin konnte er nicht helfen, sie musste ins Krankenhaus. Die Mutter von vier Kindern hatte sich in Freiburg als Haushaltshilfe um drei Kinder einer deutschen Familie gekümmert. Angemeldet war sie nicht. "Die Familie hatte Angst, dass es auffliegt", sagte der Arzt. Und die Kranke wollte aus Rücksicht gegenüber der Familie anonym blieben. Doch wer sollte unter den Umständen die 20 000 Euro aufbringen für die angezeigte Bestrahlung? Niemand fand sich. Die Therapie blieb aus. "Nach einem halben Jahr bekamen wir die Nachricht, dass sie gestorben ist."

Hunderttausende Menschen in Deutschland sind im Krankheitsfall erst einmal schutzlos, obwohl die Ärzte laut Genfer Gelöbnis des Weltärztebundes alle ohne Rücksicht auf Herkunft versorgen müssen. Bis 600 000 Menschen sollen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus, also irregulär, hierzulande sein. Andere arbeiten schwarz. Auch ihnen fehlt eine Krankenversicherung. Die Betroffenen haben Angst, auf sich aufmerksam zu machen. Aus Furcht, abgeschoben zu werden. "Wir haben verlängerten Geheimnisschutz", sagt Clever, der auch Menschenrechtsbeauftragter der Bundesärztekammer ist. Er weiß: Seit 2009 dürfen die Daten der Betroffenen nicht mehr bei Ausländerbehörden landen. "Doch das gilt nur für Notfälle." Wer etwa illegal auf dem Bau arbeitet und dort einen Unfall erleidet, bei dem greift diese Regel.

Doch in der Realität hilft laut Ärztekammer nicht mal das. Denn viele Ärzte wüssten nichts von den komplizierten Vorschriften, auch Sozialämter zeigten sich engstirnig. Behandlungen würden nicht genehmigt oder die Daten landeten oft doch bei der Ausländerbehörde.

"Es gibt viele drastische Fälle", sagt Urban Wiesing, Chef der Zentralen Ethikkommission der Bundesärztekammer, die neue Empfehlungen zu dem seit Jahren bekannten Problem herausgegeben hat. In ihrem Brief vor allem an Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) fordert sie: bürokratische Hürden beseitigen, Mediziner nicht an Behandlungen hindern, ärztliche Schweigepflicht nicht untergraben, nichtversicherten EU-Bürgern solidarisch helfen. Also großzügigere Regeln, die in anderen EU-Ländern Standard seien. In Deutschland dominierten lähmender bürokratischer Hickhack zwischen Ämtern und Arbeitsagenturen sowie Kleinherzigkeit - und das auf Kosten von Menschenleben.

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