Todesspritze für einen geistig BehindertenTodesstrafe und Hinrichtungen in den USA

Washington. Es dauerte 14 Minuten, bis Marvin Lee Wilson keinerlei Lebenszeichen mehr zeigte. Mit Gurten auf eine Liege geschnallt, hatte er es mit Fassung getragen, als ein Arzt die Giftspritze ansetzte, so jedenfalls berichten es Augenzeugen

 Todeszelle in einem Gefängnis in Texas (Foto von 2000). In dem US-Bundesstaat ist gestern der vermutlich geistig behinderte Marvin Lee Wilson hingerichtet worden. Foto: dpa

Todeszelle in einem Gefängnis in Texas (Foto von 2000). In dem US-Bundesstaat ist gestern der vermutlich geistig behinderte Marvin Lee Wilson hingerichtet worden. Foto: dpa

Washington. Es dauerte 14 Minuten, bis Marvin Lee Wilson keinerlei Lebenszeichen mehr zeigte. Mit Gurten auf eine Liege geschnallt, hatte er es mit Fassung getragen, als ein Arzt die Giftspritze ansetzte, so jedenfalls berichten es Augenzeugen. Er soll milde gelächelt und den Kopf so weit angehoben haben, wie er nur ging, um seinem Sohn und seinen drei Schwestern ein paar tröstende Worte zum Abschied zu sagen. Sein Spross möge nicht weinen, man sehe sich ja im Himmel bald wieder. "Ihr versteht doch alle, dass ich als Sünder herkam und als Heiliger gehe." Am Dienstagabend, um 18.27 Uhr Ortszeit, wurde der 54-jährige Afroamerikaner im Gefängnis von Huntsville für tot erklärt.Es war eine der umstrittensten Hinrichtungen in der Geschichte von Texas, des Staates, auf den rund 40 Prozent aller in den USA vollstreckten Todesurteile entfallen. Bis zuletzt hatte der Anwalt Lee Kovarsky um das Leben seines Mandanten gekämpft, mit dem Argument, dass Wilson geistig nicht zurechnungsfähig sei. Dessen Intelligenzquotient war bei einem Test im Jahre 2004 mit 61 beziffert worden, während allgemein 70 Punkte als Schwelle zu geistiger Kompetenz angesehen werden. Der zuständige Staatsanwalt dagegen sprach von einem Ausrutscher nach unten, einem irreführenden Ergebnis, das durch andere Untersuchungen widerlegt oder zumindest relativiert worden sei. Das Oberste Gericht gab ihm, zwei Stunden vor der Urteilsvollstreckung, in letzter Instanz Recht.

Er liegt zwanzig Jahre zurück, der Fall, der Wilson in den Todestrakt brachte. In Beaumont, einer tristen Küstenstadt am Golf von Mexiko, soll der Drogendealer den jungen Polizei-Informanten Jerry Williams ermordet haben, wobei bis zuletzt unklar blieb, ob er oder ein Kumpan den tödlichen Schuss abfeuerte. Wenige Tage zuvor hatten Fahnder in Wilsons Wohnung 24 Gramm Kokain gefunden, offenbar der Auslöser für die Attacke auf Williams. Vor einem kleinen Supermarkt prügelten er und Andrew Lewis, sein Komplize, den Informanten krankenhausreif. Tags darauf wurde Williams' Leiche am Straßenrand gefunden, nackt und übel zugerichtet. Jemand hatte ihm aus nächster Nähe eine Kugel in den Kopf gejagt. Dass Wilson zum Tode verurteilt wurde und nicht der deutlich intelligentere Lewis, beruhte im Wesentlichen auf einer Aussage von Lewis' Ehefrau. Marvin Wilson, beteuerte sie, habe ihr die Tat gestanden.

Die Sache ist umso kontroverser, weil die lokalen Behörden den Eindruck erwecken, als wollten sie unter allen Umständen drakonische Härte demonstrieren, selbst durch eine eigenwillige Auslegung geltender Regeln. 2002 hatte der Supreme Court in Washington Exekutionen geistig Behinderter in einem Grundsatzurteil untersagt, die Definition einer solchen Behinderung jedoch den einzelnen Bundesstaaten überlassen. Der Advokat Kovarsky wirft Texas vor, es in der Praxis so zu handhaben, dass so gut wie kein Häftling als geistig zurückgeblieben eingestuft wird.

Statt etwa IQ-Tests anzuerkennen, besteht der "Lone Star State" auf einem Sonderweg. Als Maßstab gilt Lennie Small, eine Figur aus John Steinbecks Roman "Von Mäusen und Menschen". Der bärenstarke, debile Landarbeiter erdrosselt eine Frau, ohne dass er sich dessen recht bewusst ist, weil er seine Kräfte nicht einschätzen kann. Ein Lennie Small, heißt es im texanischen Kriterienkatalog, dürfe nach allgemeinem Empfinden nicht hingerichtet werden. Eine schwammige Formulierung, die im Grunde alles offenlässt. "Mein Vater wäre zutiefst beschämt, würde er seine Arbeit auf solche Weise missbraucht sehen", meldet sich John Steinbecks Sohn Thomas zu Wort. Was Texas tue, sei lächerlich und zugleich auf profunde Weise tragisch.

Marvin Wilson, bezeugt dessen Verteidiger, konnte allenfalls auf dem Niveau eines Zweitklässlers lesen und rechnen. Ohne fremde Hilfe vermochte er weder eine Leiter aufzustellen noch ein Rasenstück zu mähen. Der Umgang mit Geld bereitete ihm größte Probleme, im Berufsleben hat er nie Fuß gefasst. Es sei schockierend, dass niemand seine Hinrichtung stoppte, sagt Kovarsky. Berlin. Die USA sind einer von weltweit 57 Staaten, in denen die Todesstrafe vollstreckt wird. In 33 der 50 US-Bundesstaaten sehen Gesetze die Todesstrafe für schwere Verbrechen vor. Darüber hinaus kann die Todesstrafe im ganzen Land nach Bundes- und Militärrecht verhängt werden. 1977 wurden die Hinrichtungen nach einem Moratorium wieder aufgenommen. Seitdem wurden nach Angaben des US-Death Penalty Information Centers (DPIC) 1300 Todesurteile vollstreckt.

In Colorado, wo der 24-jährige Ex-Student James Holmes in einem Kino zwölf Menschen erschossen haben soll, wurde die Todesstrafe 1975 wieder in Kraft gesetzt. Seitdem gab es aber nur eine Hinrichtung.

1997 starb der 53-jährige Gary Davis durch eine Giftspritze. Er war wegen Entführung, Vergewaltigung und Ermordung einer Frau zum Tode verurteilt worden. Derzeit befinden sich in dem Bundesstaat drei Männer im Todestrakt. Die meisten Exekutionen gab es seit 1977 mit 483 in Texas, 109 in Virginia und 99 in Oklahoma. Häufigste Hinrichtungsart ist die Giftspritze. Andere Straftäter starben auf dem elektrischen Stuhl, in der Gaskammer, wurden erschossen oder gehängt. Laut Amnesty International wurden in den USA seitdem auch mindestens 44 Gefangene mit geistigen Behinderungen hingerichtet.

Nach US-Recht besteht kein generelles und klares Verbot für Hinrichtungen von Menschen mit geistigen Erkrankungen. Im April 2012 saßen nach DPIC-Angaben 3170 Todeskandidaten hinter Gittern, die meisten in Kalifornien (724), Florida (407) und Texas (308). dpa

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