Thilo Sarrazin - der Spalter der Nation

Die einen sagen so: verantwortungsloser Unsinn, selbstverliebt und wirr, dämlich, Nazi in Nadelstreifen, nicht mehr tragbar

Die einen sagen so: verantwortungsloser Unsinn, selbstverliebt und wirr, dämlich, Nazi in Nadelstreifen, nicht mehr tragbar. Die anderen sagen so: Endlich einer, der den Finger in die Wunde legt! Herr Sarrazin sagt, was sich keiner auszusprechen traut! Danke für diese klaren Worte!Die einen, das ist die politische Elite des Landes, das sind die Kanzlerin, Minister, der SPD-Chef, der Sarrazin aus der Partei ausschließen will. Das sind Kritiker aus muslimischen Verbänden, das ist die Bundesbank. Die anderen, das sind große Teile der Bevölkerung, die sich in Leserbriefen und im Internet in selten erlebtem Ausmaß zu Wort melden, auch bei dieser Zeitung. Die Menschen lassen große Zustimmung erkennen für den "Skandal-Autor". Auch Fernseh-Umfragen waren eindeutig, ebenso die Reaktion der SPD-Basis: Mehr als 2000 Menschen haben sich an die Partei gewandt, 90 Prozent gaben Sarrazin Recht. Abseits der Frage, ob er Beifall oder Beschimpfungen verdient hat, zeigt die Debatte: Die Kluft zwischen den Bürgern und der politischen Elite war selten größer als jetzt und in der Frage: Werden wir Fremde im eigenen Land?Warum ist das so? Warum geht im Fall Sarrazin die Schere zwischen politischer Empörung und Zustimmung des Volkes so extrem auseinander? Professor Axel Misch, Politikwissenschaftler der Uni Trier, erklärt es so: "Viele Leute haben den Eindruck, dass die politische Klasse die Befürchtungen, die mit dem Thema Einwanderung verbunden sind, nicht richtig zur Kenntnis nimmt. Dass sie diese Ängste wegdrückt und schönredet." Sarrazin einen Ausländerfeind zu nennen, hält Misch für deplatziert: "Er konstatiert lediglich, dass es Gruppen von Einwanderern gibt, die sehr erfolgreich sind, und welche, die eher erfolglos sind." Mit diesem Befund stehe er nicht allein, und er sei nicht der Erste, der dies ausspricht: "Überall in Westeuropa sind muslimische Einwanderer im Vergleich zu anderen Immigranten deutlich erfolgloser was Bildung und die Integration in die Arbeitswelt betrifft." Bis weit in die neunziger Jahre hinein, sagt der Bremer Migrationsforscher Stefan Luft, habe es in Deutschland beim Thema Einwanderung eine "Wahrnehmungsblockade" gegeben - bis hin zu Kontroversen, ob im Polizeibericht die Nationalität des Täters stehen darf. Erst durch Ereignisse wie den 11. September, die Ermordung des islamkritischen Filmemachers Theo van Gogh oder die Vorstadtkrawalle in Paris sei das Thema auch bei uns aktuell geworden. Die derzeitige Aufregung habe mit Sarrazin als bekanntem Provokateur zu tun: "Er rührt das Thema zu einem Kampf ums Überleben zusammen."Doch was sagt das aus über Deutschland - diese Zustimmung für Sarrazin? "Es geht überwiegend nicht um Ausländerfeindlichkeit, es geht um Angst", sagt Luft. "Um die Angst, den eigenen Wohlstand zu verlieren." Die ärmeren Schichten, die mit vielen Ausländern Tür an Tür leben, fühlten sich mancherorts tatsächlich schon fremd im eigenen Land, wenn in ihrer Straße immer mehr Vollverschleierte zu sehen seien und in der Bäckerei um die Ecke der nächste Kebap-Laden eröffne. Die "bürgerliche Mitte" fühlt sich laut Luft weniger durch den direkten Kontakt mit Ausländern bedroht, "sondern durch das, was sie hört, sieht und liest". Wohlhabende dagegen würden Zuwanderung vor allem als Bereicherung ansehen: "Türkischer Gemüsehändler, polnische Putzfrau, Abendessen beim Griechen - ist doch alles halb so schlimm." Es sei denn, das eigene Kind komme in eine Schule mit vielen Ausländern - dann ändere sich die Perspektive schnell. Dazu kommt, so Luft: "Die Suche nach Sündenböcken für irgendwas wird immer gern genommen." Misch beantwortet die Frage nach der Zustimmung für Sarrazin politisch: "Es zeigt, dass in Deutschland ein Potenzial für eine politische Kraft vorhanden ist, die Immigration und Integration zu ihrem großen Thema macht. Die etablierten Parteien scheinen dazu derzeit nicht bereit." Als Held der NPD mit ihrem kruden "Ausländer raus!" taugt Sarrazin aber sicher auch nicht. Es geht ihm darum, dass Integration eine "Bringschuld" der Migranten ist. Heißt: Deutsch lernen, Lebensunterhalt mit Arbeit verdienen und dafür sorgen, dass die Kinder in der Schule vorankommen. Niemand wird das rechtsradikal nennen, allenfalls rechtspopulistisch. In vielen Nachbarländern haben Parteien dieser Bauart schon längst Erfolge, die Schweizerische Volkspartei etwa, Geert Wilders in den Niederlanden, Jörg Haider und seine Nachfolger in Österreich, auch in Dänemark und Norwegen gibt es sie. Bald auch in Deutschland? "Wenn das etablierte Parteiensystem die Erwartungen eines erkennbaren Teils der Bevölkerung auf Dauer ignoriert, bietet sich die Chance für eine entsprechende Partei", sagt Misch. Einer "Focus"-Umfrage zufolge jedenfalls können sich 20 Prozent der Deutschen vorstellen, "eine bürgerlich-konservative Partei rechts von der CDU zu wählen". Misch überrascht das nicht: "Noch ist so etwas aber nicht absehbar." Weil es, so Misch, erstens keine hinlänglich prominente Führungsfigur gebe. Weil zweitens die Integration, bei aller Kritik, hierzulande besser als anderswo in Europa funktioniere. Und weil es drittens in Deutschland noch kein gravierendes Ereignis, einen Auslöser gegeben habe, der die Menschen auf die Straße gebracht hätte. Misch meint ein Attentat wie in London oder Madrid, er meint die Ermordung von van Gogh: "Diese Tat hat die holländische Gesellschaft durchgerüttelt und durchgeschüttelt."

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