Terrorist oder Kämpfer für die Freiheit?

Sarajevo · Der Serbe Gavrilo Princip hat vor fast 100 Jahren mit seinem Mord an dem Habsburger Thronfolger in Sarajevo den Auslöser für den Ersten Weltkrieg geliefert. Schon Monate vor dem Jahrestag wird heftig gestritten: War der Attentäter Terrorist oder Patriot?

Die Gelegenheit kommt am 28. Juni 1914 im Zentrum von Sarajevo völlig unerwartet, als der ganze Mordplan schon gescheitert zu sein scheint. Weil sich die Wagenkolonne des Habsburger Thronfolgers Franz Ferdinand verfährt und im Schneckentempo zurücksetzen muss, taucht die Droschke des Staatsgastes plötzlich vor der Nase des jungen Serben Gavrilo Princip auf, der im Café sitzt und sich wegen seines Versagens umbringen will. Der knapp 20-Jährige springt heraus und gibt aus nächster Nähe zwei Schüsse ab. Der erste tötet Sophie, die Ehefrau Franz Ferdinands. Der zweite setzt dem Leben des Thronfolgers ein Ende. War Princip ein Terrorist? Ein Freiheitskämpfer? Darüber gehen die Meinungen auf dem Balkan weit auseinander.

Mit Princips Schüssen nimmt das Schicksal seinen unerbittlichen Lauf in Richtung Erster Weltkrieg. Die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie stellt Serbien ein praktisch unannehmbares Ultimatum, das auch prompt abgelehnt wird. Das deutsche Kaiserreich erteilt Wien durch seine volle Rückendeckung eine Blankovollmacht. So gestärkt, erklärt das Habsburgerreich Serbien den Krieg. Durch verschiedene Bündnisverpflichtungen tritt Russland als Serbiens Schutzmacht ebenso in den Krieg ein wie Frankreich und Großbritannien. Der Krieg soll das Machtgefüge der Weltmächte umstürzen und die Landkarten verändern. Rund 17 Millionen Tote sind zu beklagen. Das Leid der Zivilisten durch neue chemische Waffen und die Zerstörungen erreichen bis dahin nicht bekannte Ausmaße.

Bis zum 100. Jahrestag von Attentat und Kriegsausbruch sind es noch einige Monate. Doch schon jetzt wird in der Balkanregion erbittert über die Ziele und die Charaktere der Attentätergruppe gestritten, zu der auch Princip gehörte. Waren sie Terroristen, gar Vorläufer von Al Qaida und deren Führer Osama bin Laden, wie es einige westliche Historiker nahelegen? Oder waren Freiheitskämpfer am Werk, die ihr Land vom "Habsburger Okkupationsjoch" befreien wollten? Vor allem die Serben befürchten, dass sie nach den blutigen Balkankriegen (1991-1999), für die sie die Hauptschuld tragen, jetzt auch noch die Schuld für den Ersten Weltkrieg aufgebürdet bekommen.

Am 99. Jahrestag der Schlacht von Cer, einer der ersten großen Gefechte des Ersten Weltkriegs bei der serbischen Stadt Sabac, wehrte sich Serbiens Regierungschef Ivica Dacic vor zwei Wochen gegen jede "Geschichtsfälschung". "Wenn der Erste Weltkrieg wegen der Verrücktheit der Serben ausgelöst worden wäre, hätten wir keine Verbündeten gehabt", sagte er. "Die jahrzehntelange Propaganda will sagen, dass die Serben der Störungsfaktor auf dem Balkan und in der ganzen Welt sind", kritisierte er. In Wirklichkeit habe Serbien aber den Krieg "gegen die imperialistischen und hegemonistischen Kaiserreiche der Deutschen und Habsburger gewonnen".

Die negative Rolle Serbiens versuchen bosnische Politiker und Wissenschaftler nachzuweisen. Die revolutionäre Vereinigung "Junges Bosnien", der auch die Attentäter um Princip angehörten, strebten nach der Schaffung eines Großserbiens, kommentiert Mirsad Avdic die damalige Ausgangslage. Avdic ist Kustos für die Zeit von 1878 bis 1918 im Stadtmuseum von Sarajevo. Damit sei die Bewegung der Vorläufer für die Balkankriege am Ende des 20. Jahrhunderts, die von Serbien mit demselben Ziel geführt wurden, lautet die Position vieler Bosniaken.

Der Plan zur Ermordung von Franz Ferdinand ging von Princip aus, der aus einer armen Postler-Familie im tiefen Bosnien bei Grahovo stammte. Er heuerte zwei Gesinnungsgenossen an. Die drei erhielten von der serbischen Geheimorganisation "Schwarze Hand" Schießunterricht im Belgrader Topcider-Park, vier Pistolen samt Munition und sechs Bomben. Ohne das Wissen dieser Gruppe wurde ein zweites Trio an der Reiseroute Franz Ferdinands postiert, das einen ersten Anschlag ausübte. Die Bombe verfehlte den Staatsgast, verletzte aber zwei Mitreisende und einige Schaulustige am Straßenrand. Wenig später hatte Princip mit seinen Schüssen den erwünschten Erfolg. Eine wütende Menschenmenge versuchte, die Attentäter zu lynchen. Die wurden alle von der Polizei verhaftet. Insgesamt sechs Attentäter und mehr als ein Dutzend mutmaßlicher Gehilfen wurden zu schwerem Kerker verurteilt. Drei Hintermänner der "Schwarzen Hand" starben durch den Strang. Princip wurde zu 20 Jahren verschärften Kerkers verurteilt - ohne Reden, Schreiben, Lesen und Besuchsrecht. Er starb im April 1918 an Tuberkulose im Gefängnis im heutigen tschechischen Theresienstadt.

Zeit der Attentate

In Belgrad ist im kommenden Jahr eine internationale Konferenz zum Ersten Weltkrieg mit 30 Historikern geplant. Die Gleichsetzung von Princip mit Bin Laden sei doch "idiotisch", sagt das Akademiemitglied Dragoljub Zivojinovic, das für das Programm zuständig ist. "Princip ist niemals ein Terrorist", erklärten heimische Historiker in einer Umfrage der Belgrader Zeitung "Blic". "Damals gab es noch gar keinen Terrorismus im heutigen Sinne, sondern es gab nur Attentate auf gekrönte Häupter", lautet die Begründung. In der Tat gab es Mordanschläge auf europäische Prominenz am laufenden Band: 1894 brachte ein Anarchist den Präsidenten der französischen Dritten Republik um; 1898 wurde in Genf Elisabeth von Österreich-Ungarn (Sisi) erstochen; 1900 folgte das tödliche Attentat auf den italienischen König Umberto I.; 1903 fand der serbische König Aleksandar Obrenovic samt Frau durch eine Offiziersverschwörung den Tod und 1913 wurde in Thessaloniki der griechische König Georg I. ermordet.

Die Ansicht bosnischer Historiker über die Zeit der Habsburger Herrschaft (1878-1918) ist bei Weitem nicht so negativ wie die ihrer serbischen Kollegen. Während Belgrad die "Besatzungsmacht" für "unermessliches Leiden und Sklaverei im dunklen Völkergefängnis" verantwortlich macht, sehen die Geschichtswissenschaftler in Sarajevo auch positive Seiten. Die von den Habsburgern errichtete Infrastruktur wie Straßen, Wasserversorgung und Kanalisation seien erst durch die Serben im Krieg ruiniert worden. "Die von den Habsburgern eingeführte Administration in Staat, Gemeinden sowie in der Justiz und im Schulwesen war so gut, dass sie von den Serben später komplett übernommen wurde", heißt es in vielen Publikationen. Vor allem wird Wien hoch angerechnet, dass es die Muslime vor Übergriffen der Serben geschützt hat. Für diesen Bevölkerungsteil sei eine "gewisse Rechtssicherheit" geschaffen worden.

Dagegen sieht das serbische Akademiemitglied Zivojinovic Geschichtsfälschung. Die Habsburger Besatzung sei für die gesamte Bevölkerung schlecht gewesen. Jetzt versuche die EU, die damals verfeindeten Staatenbünde wie Deutschland/Österreich und Frankreich/Großbritannien in Harmonie zu verbinden. "Und daher müssen die Konflikte der Vergangenheit vergessen gemacht werden", sagt der Wissenschaftler. "Und wenn wir die EU-Mitglieder versöhnen wollen, dann muss die Verantwortung für den Krieg auf Russen und Serben abgewälzt werden."

Ivo Komsic ist der amtierende Bürgermeister von Sarajevo. Er will nicht, dass durch das 100-Jahr-Gedenken die alten Gräben wieder aufgerissen werden. Die Geschichte gehöre in die Museen, ihre Interpretation solle man den Historikern überlassen. Dass er sich auf vermintem historischen Gelände befindet, hatte aber auch Komsic schon einsehen müssen. Die im kommenden Juni geplante Konferenz mit über 100 ausländischen Wissenschaftlern hat bereits zu Streit um die Tagesordnung geführt. "Als Bürgermeister bin ich dafür, den gesamten Krieg auf den wissenschaftlichen Prüfstand zu stellen und nicht nur das Attentat isoliert zu betrachten", sagt der Stadtchef. Jedenfalls haben sich für den Jahrestag der französische Präsident François Hollande und Bundeskanzlerin Angela Merkel angesagt.

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