"Tempo, Tempo, sonst wird's eine Beerdigung"

Saarbrücken. Der Maestro trägt ein Ripp-Unterhemd. Erste "BO" - Bühnen-Orchesterprobe im Großen Haus. Frank Nimsgern (40) ist auf dem Sprung nach ganz oben. Gleich wird er auf der Bühne eine halsbrecherische Feuerleiter hochklettern, zu seiner Band. Zwei Stunden "Phantamsa" erlebt er aus der Vogelperspektive. "Hier wird man zu Bruce Willis", sagt er

Saarbrücken. Der Maestro trägt ein Ripp-Unterhemd. Erste "BO" - Bühnen-Orchesterprobe im Großen Haus. Frank Nimsgern (40) ist auf dem Sprung nach ganz oben. Gleich wird er auf der Bühne eine halsbrecherische Feuerleiter hochklettern, zu seiner Band. Zwei Stunden "Phantamsa" erlebt er aus der Vogelperspektive. "Hier wird man zu Bruce Willis", sagt er. Tatsächlich: Der Mann hat Muskeln: Krafttraining. Er will Stand halten. Nicht nur optischen Ansprüchen des Musikbusiness', vordringlich dem abendlichen Konzentrations-Druck. Nimsgern: "Musical heißt Timing. Die Anschlüsse müssen stimmen. Ich gebe alle Tempi." Und das bei einer Produktion, die keine Vorhänge kennt, sondern abrollt, fließt wie ein Film. "Ich wollte was Cineastisches", sagt Nimsgern, der mit Filmmusik ("Tatort") vertraut ist. Er kämpft nicht gegen die eskalierende Rasanz alles Visuellen: "Das jüngere Publikum ist nun mal eine ganz andere Geschwindigkeit gewöhnt." Deshalb wurde die Stoppuhr bei den "Phantasma"-Workshops mit seinem Kreativteam der große Diktator. Vorlaufzeit: 2,5 Jahre.

Das Schlimmste im Musical, das lernt man bei dieser Probe, sind "Löcher". Beim Geburtstags-Ständchen lahmt der Chor: "Tempo, Tempo, sonst wird's eine Beerdigung!" - Nur einmal unterbricht Regisseur Elmar Ottenthal den Durchlauf. Er scheint umbrandet von Dauergeflüster: Bühnenbildner, Lichtmeister, Choreograf. Zugleich diktiert er stoisch, leise, aber turboschnell seine Korrekturen. "Wir müssen die Stimmung überdenken. Die 196 muss anders werden." Gemeint ist einer der 1300 (!) Einzel-Licht-Effekte. Wie schafft es Regieassistent Gaetano Franzese, im Dunkel die Worte von Ottenthals Lippen zu saugen? Der Stift rast, die Taschenlampe flackert. Doch Musical-Uraufführungs-Experte Ottenthal ("Gaudi") ist immun gegen Stöhnen: "Schreib' auf: Das Tischtuch geht so nicht." Wie aber? Offensichtlich haben hier alle Gedankenlesen gelernt.

Fürs große Gefühl ganz vorne hat keiner auch nur einen Wimpernschlag. "Herzlos zu sein ist der erbärmlichste Zustand", klagt der Titelheld (Mischa Mang). Nimsgern schickt den ruhmsüchtigen Rocksänger auf ewige Wanderschaft nach der wahren einzigen Liebe, hat eine Zeitreise durch vier Musikstil-Epochen komponiert, vom Pariser Can-Can bis zum heutigen Popgroup-Sound. Und er hat mal wieder in die operngeschichtliche Motiv-Schatztruhe zum Thema männliche Unerlöstheit gegriffen ("Der fliegende Holländer", "Hoffmanns Erzählungen"). Der Sohn des Ex-Bayreuth-Stars Siegmund Nimsgern kann nicht anders.

Auf der Bühne herrscht rot glühende Opulenz, mehr noch als bei seinen fünf Saarbrücker Arbeiten der Vergangenheit. Allesamt beifallumtost, zu "Paradise of Pain" (1998) pilgerten 48 000 Fans. Nun muss immerzu alles ausverkauft sein. Ein olympisches Weiter-Höher-Schneller? Bei "Poe" (2004) hat's bereits nicht mehr geklappt. Kalkuliert das SST deshalb jetzt mit vorsichtigen 27 Abenden, kaum mehr als bei einer "Traviata" (22)? Bei Musicals gibt's nur eine Maßgabe: Die Einnahmen müssen die Kosten decken. Das legt Intendantin Dagmar Schlingmann dar. Von wegen, das Musical sei eine "Cashcow". Mit 250 000 Euro steht "Phantasma" in den Büchern - der "Faust" kostet im Vergleich 70 000 Euro.

Für "Phantasma" reisen pro Aufführung 25 Gäste an: sechs Sänger-Solisten, elf Ballett-Tänzer, acht Mitglieder der Frank-Nimsgern-Group. "Wir heben schon ein wenig das Theater aus den Angeln", meint Schlingmann. Doch das Genre Musical funktioniere nur so: perfekt. Also ist bei jeder Aufführung auch annähernd die gesamte Abteilung Tontechnik anwesend, fast 25 Mann. Trotzdem ist die Zeit vorbei, da man in Theatern wie in Saarbrücken den Ausnahmezustand ausrufen musste.

Selbst wenn manches beängstigend gigantisch ausfällt: Eine sechs Meter große Spinne und ein 16 Meter breites Spinnennetz wurden gefertigt, fünf Bühnenmaler schwangen ein Meter lange Pinsel, um Bilder von sieben mal neun Metern zu füllen. Kostümbildnerin Angela C. Schuett ließ 200 Kostüme nähen, schaffte 60 Paar Schuhe an. Schuett: "Wahnsinn ist nicht das Material, es ist die Zeit-Investition. Nähme man nur zehn Minuten pro Anprobe, bräuchte man sieben Tage ohne Pause." Sechs Mal ziehen sich die Tänzer während der Show um, die schnellste Aktion muss in 40 Sekunden bewältigt sein.

Musical als Hochleistungs-Technologie, die Latte liegt immer höher. Ottenthal und Nimsgern wissen: Die Saarbrücker erwarten einen Standard wie beim Branchenriesen Stage. Den Unterschied zwischen Provinz und Metropole macht aber nicht etwa Geld aus. Profis richteten Stück und Besetzung exakt darauf aus: "Noch mehr von allem würde beispielsweise bei Phantasma alles erschlagen." Nein, was nun wirklich anders laufe, sei, dass die Phase der Previews entfalle, erklärt Nimsgern. Doch vor der Premiere Reaktionen testen und weiterfeilen, das wäre für das SST, das nicht ensuite spielt, ein unvorstellbarer Luxus. "Wir haben nur einen Shot, und der muss funktionieren", seufzt Nimsgern. Aber es muss noch andere geben neben ihm. Auch wenn's gerade nicht danach aussieht.

Auf einen Blick

Der Komponist und Produzent Frank Nimsgern, dessen Revue "Qi" am Berliner Friedrichsstadtpalast zum Sensationserfolg wurde, hat Exposé und Musik für "Phantasma" geschrieben, die (Lied-)Texte stammen von Aino Laos und Elmar Ottenthal (Regie).

Es singen unter anderem Aino Laos, bereits vielfach am SST zu sehen, Mischa Mang ("Jekyll & Hyde") und Darius Merstein ("Poe").

Premiere: 7. 11., 19.30 Uhr (ausverkauft). Voraufführung: 6. 11.; Termine bis Jahresende: 13.11., 17.11., 21.11., 24.11. , 26.11., 27.11., 3.12. , 6.12., 18.12., 23.12., 31.12. ce

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