Stilles Schuften für 60 Euro im Monat

Chittagong · Die Textilfabriken in Bangladesch sind in der Vergangenheit immer wieder in die Schlagzeilen geraten, weil dort Menschenrechte missachtet und Sicherheitsstandards ignoriert werden. Hunderte Menschen starben bei Unglücken in den Gebäuden. Der Saarbrücker Theologe Gotthold Hasenhüttl ist kürzlich nach Bangladesch gereist, um sich vor Ort ein Bild von den Verhältnissen zu machen.

 In engen Tischreihen sitzen die Arbeiterinnen an ihren Nähmaschinen. Zwischen ihnen hat gerade mal ein Mülleimer Platz. Zehn Stunden arbeiten sie am Tag, nur in der Mittagspause dürfen sie aufstehen. Foto: Hasenhüttl

In engen Tischreihen sitzen die Arbeiterinnen an ihren Nähmaschinen. Zwischen ihnen hat gerade mal ein Mülleimer Platz. Zehn Stunden arbeiten sie am Tag, nur in der Mittagspause dürfen sie aufstehen. Foto: Hasenhüttl

Foto: Hasenhüttl

Neben der Hauptstadt Dhaka mit 15 bis 18 Millionen Einwohnern ist Chittagong die zweitgrößte Stadt von Bangladesch mit rund drei Millionen Einwohnern. Während in Dhaka die Textilfabriken am Stadtrand angesiedelt sind, liegen diese in Chittagong zentral in der Nähe des größten internationalen Hafens des Landes, von wo die Ware in die verschiedenen Länder verschifft wird. Loyal Apparels Ltd. hat die größten Absatzgebiete in den USA und Australien und arbeitet für die Marke "Calvin Klein". Viele Textilfabriken verweigerten offenbar nicht ohne Grund den Zutritt - anders Loyal Apparels Ltd. Der Manager erklärte, dass sie nichts zu verbergen hätten, denn ihr Betrieb sei ganz besonders sozial. Es ist ein privates Familienunternehmen und hat in verschiedenen Fabriken 3500 Beschäftigte.

Die Fabrik, die ich besuchen konnte, produziert nur Slips, andere nur T-Shirts oder andere Waren, da diese Produktionsweise effektiver ist. Der Frauenanteil der Arbeiter beträgt 70 bis 90 Prozent. Besonders hervorgehoben wurde, dass die Bezahlung dem doppelten Mindestlohn entspricht, nämlich 60 Euro pro Monat, während die Konkurrenz durchschnittlich nur 40 Euro bezahlt. Da der Gewinn groß genug ist und auf gute Ware größten Wert gelegt wird, braucht Loyal Apparels Ltd. andere Unternehmen nicht zu fürchten.

Die Arbeitszeit beträgt zehn Stunden am Tag: fünf Stunden vormittags, eine Stunde Mittagspause, fünf Stunden nachmittags. Und das an sechs Tagen, das heißt pro Woche 60 Stunden. Gearbeitet wird im Akkord. Jeder muss sein festgesetztes Pensum am Tag erfüllen. Geschieht dies nicht, wird sie/er einmal ermahnt. Trägt dies keine Frucht, wird sie/er sofort fristlos gekündigt. In der besuchten Fabrik werden Arbeiterinnen erst ab 18 Jahren angestellt. Jüngere oder Kinder werden nicht eingestellt, weil sie weniger zuverlässig seien. Das Alter ist schwer zu überprüfen, da oft keine Geburtsurkunde vorliegt. Meinem Eindruck nach war niemand jünger als 16 und niemand älter als 30, obwohl angeblich die Möglichkeit besteht, bis 50 zu arbeiten. Wer würde das wohl aushalten? Nach 18 Arbeitstagen wird ein freier bezahlter Tag gewährt. Eine andere Urlaubsmöglichkeit besteht nicht.

Tagein, tagaus hat jeder immer die gleiche Arbeit zu verrichten. Wer als Näherin oder Sortiererin eingestellt wurde, bleibt in dieser Sparte. Einen Tätigkeitswechsel gibt es nicht. Im Krankheitsfall stehen ein Betriebsarzt sowie ein Krankenhaus zur Verfügung. Die längste Krankschreibung, die möglich ist, beträgt 14 Tage; wer länger krank ist, wird entlassen. Die nötigen Medikamente werden gratis zur Verfügung gestellt, was als besondere Sozialleistung hervorgehoben wurde. Wird eine Frau schwanger, erhält sie vier Monate bezahlten Urlaub.

In einem Raum, der etwa so groß ist wie eine Turnhalle, aber eine sehr viel niedrigere Decke hat, arbeiten 350 Personen. Zwar fällt fahl das Tageslicht in den Raum, die elektrische Beleuchtung ist für die Arbeit jedoch unentbehrlich. Wer mit einem dunklen Stoff arbeitet, erhält eine zusätzliche Beleuchtung. Die durchschnittliche Temperatur in den Arbeitsräumen liegt knapp unter 30 Grad. In der heißen Jahreszeit werden zusätzlich Ventilatoren eingesetzt.

Die Arbeiterinnen sitzen Lehne an Lehne und zwischen die einzelnen Plätze passt gerade ein Papierkorb. Der Arbeitsplatz darf in den fünf Stunden nicht verlassen werden. Jeder hat eine Tafel, die anzeigt, ob bei der Arbeit ein Problem aufgetaucht ist. Grün bedeutet: ohne Probleme. Die verschiedenen anderen Farben verdeutlichen die Größe der Schwierigkeit. Da in den schmalen Zwischengängen stets ein Aufseher patrouilliert, wird ihm auf diese Weise die Situation mitgeteilt - zum Beispiel, wenn eine Nadel abgebrochen ist.

Es war auffallend, wie scheu und lautlos sich die Arbeiterinnen verhalten haben. Nur das Geräusch der Nähmaschinen war zu hören. Besonders wurde darauf hingewiesen, dass jedem Beschäftigten gratis ein Atemschutz und ein Kopftuch zur Verfügung gestellt wird, damit der Feinstaub nicht in die Lunge gerät und Haare sich nicht in der Maschine verfangen. Es besteht aber keine Pflicht, diese zu tragen. Tatsächlich sah ich einige wenige, die keinen solchen Schutz trugen.

Die Enge und Nähe fast aller Arbeitenden zueinander machte einen bedrückenden Eindruck. Nach Aussagen der Fabrikleitung ist trotzdem im Notfall eine Evakuierung in nur drei Minuten möglich. Die Richtungspfeile waren gut ausgeschildert. Auch wurde ich darauf aufmerksam gemacht, dass allein für Schwangere, damit sie nicht gestoßen werden, ein extra rot markierter Treppenabschnitt zur Verfügung steht.

Man muss sich vor Augen halten, dass sich dieser Betrieb als außergewöhnlich sozial versteht. Selbstverständlich gibt es weder Kranken- oder Sozialversicherung noch eine Altersversorgung. Wer keine Arbeit hat oder nicht mehr arbeiten kann, ist auf die Großfamilie angewiesen. In einem solchen Betrieb arbeiten zu müssen, ist für mich unvorstellbar. Wie aber sieht es erst in anderen Betrieben aus, die diese sozialen Standards nicht erfüllen? Ein Boykott der dort hergestellten Waren ist nicht sinnvoll, da er nur zur Arbeitslosigkeit führt. Wohl aber müssten Firmen der wohlhabenden Länder Druck auf diese Unternehmer ausüben. Wer aber hat an der Verteuerung der Waren ein Interesse?

40 Millionen Menschen in Bangladesch leben unter der Armutsgrenze, die bei einem Euro pro Tag liegt, davon sind 15 Millionen arbeitslos, die nichts erhalten. Selbst Lehrer verdienen nur 120 Euro pro Monat, aber immerhin doppelt so viel wie die Textilarbeiterinnen. Um eine Vorstellung zu haben, wie man unter diesen Bedingungen überleben kann, können einige Preisangaben dienen: Ein Kilogramm Reis kostet von 30 Cent bis 1,20 Euro je nach Qualität, ein Kilo Bohnen 40 Cent. Eine kleine Kartoffeltasche mit etwas Gemüse kann man für fünf Cent an einer Bude kaufen. Wenn jemand am Sonntag ein Huhn im Topf haben möchte, zahlt er dafür fünf Euro. Das heißt, eine "gut" bezahlte Textilarbeiterin muss 25 Stunden arbeiten, um sich das leisten zu können. Alles was über die einfachsten Grundnahrungsmittel hinausgeht, ist fast unerschwinglich.

Ich bewundere den Lebensmut dieser Menschen, ihre Freundlichkeit, ihre Ausdauer und auch ihre Hoffnung, die aus den Gesichtern sprach, dass eines Tages und wenn es erst die Kindeskinder sein sollten, die Menschen in Bangladesch eine bessere Zukunft haben werden. Auch wir in Deutschland könnten dazu beitragen, dass ihre Hoffnungen erfüllt werden, wenn wir uns nicht nur für billige Preise und eine Gewinnmaximierung interessieren, sondern uns für einen gerechten Lohn und bessere Arbeitsbedingungen in einem solchen Lohnniedrigland einsetzen.

Gotthold Hasenhüttl war von 1974 bis 2002 Professor für Systematische Theologie an der Saar-Uni. 2003 lud er bei einem ökumenischen Gottesdienst auch Protestanten und Nicht-Katholiken zur Kommunion ein. Daraufhin wurde er vom Priesteramt suspendiert. 2010 trat er aus der Kirche aus.

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HintergrundUnzureichende Sicherheitsvorkehrungen und Baumängel haben in Bangladesch schon mehrfach zu schweren Unglücken geführt. Einige Beispiele:Februar 2006: Eine Textilfabrik im Südosten des Landes wird nach dem Ausbruch eines Feuers für 61 Menschen zur Todesfalle. Wachmänner versperren die Fabrikausgänge - aus Angst, Arbeiter könnten in dem Tumult Textilien stehlen.November 2012: Beim Brand in einer Textilfabrik am Rande der Hauptstadt Dhaka kommen 111 Menschen ums Leben. Erneut werden Aufpasser verdächtigt, die Arbeiter eingeschlossen zu haben. Seit Dezember 2013 stehen 13 Angeklagte wegen des Unglücks vor Gericht. Die Fabrik hatte Kleidung für Firmen wie C&A oder Walmart produziert.April 2013: Beim schlimmsten Fabrikeinsturz in der Geschichte Bangladeschs sterben 1127 Menschen. In dem Gebäude in der Stadt Savar ließen Hersteller wie Kik, Primark und Benetton produzieren. Nach der Katastrophe lässt die Regierung 18 gefährdete Fabriken schließen. 31 Textilfirmen gehen ein Abkommen für mehr Sicherheit ein.Mai 2013: Bei einem Feuer in einem Textilunternehmen in Dhaka sterben acht Menschen. dpa

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