Stiller Protest – Seit 14 Jahren im Hungerstreik

Neu Delhi · In entlegenen Ecken Indiens können Soldaten ihre eigenen Landsleute vergewaltigen und ermorden – und kommen straffrei davon. Eine Frau stemmt sich auf ihre Art gegen die Gewalt.

Eine Explosion zerreißt die Nachmittagsstille im Dorf Malom, am äußersten östlichen Rand Indiens, inmitten der grünen Felder von Manipur. Aufständische hatten eine Bombe gezündet, die aber niemanden verletzte. Soldaten der indischen Armee strömen daraufhin in das Dorf. Sie töten zehn Menschen. "Nur ein Massaker unter vielen", schreibt eine Zeitschrift. In zahlreichen entlegenen Gebieten Indiens kämpfen Rebellengruppen für mehr Eigenständigkeit oder Unabhängigkeit, und die indische Regierung reagiert mit militärischer Härte. Soldaten haben in diesen Gebieten quasi freie Hand. Ein umstrittenes Gesetz namens Armed Forces (Special Powers) Act (AFSPA) schützt sie vor ziviler Strafverfolgung - auch bei Mord , Vergewaltigung und Folter.

Für Irom Chanu Sharmila war das Massaker vom 2. November 2000 eines zu viel. Sie trat in den Hungerstreik. Ihre Forderung: Schafft das drakonische AFSPA-Gesetz endlich ab, sonst wird die Gewalt von beiden Seiten nie enden. Seit fast 14 Jahren nimmt Sharmila, "die eiserne Lady von Manipur", weder Wasser noch Essen zu sich - und wird zwangsernährt. "Ich werde so lange nichts in meinen Mund nehmen, bis mein Wunsch in Erfüllung gegangen ist", sagte sie vergangene Woche. Da war die 42-Jährige wenige Stunden in Freiheit. Abgemagert, schwach und mit geisterhaft heller Haut saß sie auf einem Protestplatz in Imphal, der Hauptstadt Manipurs. Doch am Freitag kamen Polizistinnen und schleppten die schreiende und um sich schlagende Frau erneut davon, um sie in dem Krankenhaus einzusperren, in dem sie seit mehr als einem Jahrzehnt festgehalten wird.

Denn versuchter Selbstmord ist in Indien ein Verbrechen. Also wird Sharmila über einen Schlauch in ihrer Nase zwangsernährt. Das Festhalten beschneide ihr Recht auf freie Meinungsäußerung, empört sich die Menschenrechtsorganisation Amnesty International . "Anstatt sich mit den wichtigen Anliegen zu beschäftigen, für die Sharmila kämpft, bringt die Regierung Manipurs Gegenstimmen leider zum Schweigen", sagt Shailesh Rai von Amnesty in Indien.

Eine Lösung ist nicht in Sicht. Seit 1958 gilt das Gesetz schon, obwohl es als Notstandsgesetz verabschiedet wurde. Regierung und Armee beharren darauf, dass die weitreichenden Rechte nötig seien, um gegen Aufständische wie etwa maoistische Rebellen oder Extremisten in Kaschmir vorzugehen. Appelle der Vereinten Nationen und Menschenrechtsorganisationen, das Gesetz abzuschaffen oder zumindest zu ändern, stoßen in Neu Delhi auf taube Ohren. Auch das indische Verfassungsgericht kann nichts tun.

Für viele Menschen in den betroffenen Gebieten ist die standhafte Sharmila eine Lichtgestalt, fast eine Heilige. Auch wenn sie selbst sagt: "Ich will, dass die Menschen mein Anliegen unterstützen und mich nicht als Heldin behandeln." Den Weg, den sie für ihren Protest wählte, ging schon Mahatma Gandhi , der Vater der Nation. Nur dass dieser seine Ziele oft nach wenigen Tagen oder Wochen erreichte.

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