London Steht May mit Brexit-Deal bald im Regen?

London · Das britische Parlament stimmt morgen über das EU-Austrittsabkommen ab. Nach einer Mehrheit für Theresa Mays Vertrag sieht es derzeit nicht aus.

Noch wird im britischen Parlament und hinter den Kulissen gestritten, debattiert und verhandelt. Morgen Abend wollen die Abgeordneten endlich über das EU-Austrittsabkommen und die politische Erklärung abstimmen, auf die sich London und Brüssel geeinigt haben. Bislang sieht es nicht aus, als ob Premierministerin Theresa May eine Mehrheit für den Vertrag bekommen kann. Doch was, wenn der Brexit-Deal abgelehnt wird? Vieles hängt davon ab, wie viele Parlamentarier in diesem Fall dagegen votieren und aus welchen Reihen die Gegenstimmen stammen.

Als wahrscheinlichstes Szenario gilt, dass die Regierungschefin nach einer moderaten Niederlage versuchen wird, der EU Zugeständnisse abzuringen und im Anschluss eine zweite Abstimmung anzuberaumen. Auch wenn es in Brüssel stets hieß, man wolle das Paket nicht wieder aufschnüren, könnten die beiden Verhandlungspartner kosmetische Änderungen in der politischen Erklärung vornehmen, die jedoch – anders als der Austrittsvertrag – rechtlich nicht bindend ist. May würde derweil versuchen, Parlamentarier ihrer konservativen Partei sowie Abgeordnete der Opposition zu überzeugen, entweder für den leicht abgewandelten Kompromiss zu stimmen oder sich zu enthalten. Hinzu kommt, dass die Wirtschaftswelt an diesen Tagen der Ungewissheit massiven Druck auf die Politik ausüben dürfte, was wiederum Einfluss auf die Rebellen haben könnte. Denn die Zeit wird knapp, am 29. März 2019 schon scheidet das Land aus der Gemeinschaft aus. Am Ende würde es darauf ankommen, wie viele der derzeitigen Kritiker einem zweiten Parlamentsvotum fernbleiben oder den Deal widerwillig – wohl mehr aus Sorge vor einem ungeregelten Austritt als aus Überzeugung – billigen. Und damit May schlussendlich Erfolg bescheren könnten.

Sollte die Premierministerin beim morgigen Wahlgang krachend verlieren, wenn etwa die Hälfte des Parlaments gegen den Deal stimmt, könnte dies das Aus für May bedeuten. Tritt sie zurück? Dann müssten die Konservativen einen neuen Vorsitzenden bestimmen, was wiederum einige Wochen dauern würde. Die meisten Beobachter in Westminster schließen aber einen freiwilligen Rückzug der zähen und scheinbar unverwüstlichen Premierministerin aus. Die Opposition spekuliert vielmehr auf Neuwahlen. Die Labour-Partei plant, ein Misstrauensvotum gegen May einzubringen, sollte der Deal im Unterhaus scheitern. Doch wie Neuwahlen zur Lösung der verzwickten Situation beitragen sollen, bleibt ein Rätsel – außer, dass sie die Karrieren einiger Politiker beflügeln könnten. Ohnehin wird es eng für May. Sie hat auch in den eigenen konservativen Reihen mächtige Gegner, die ihrerseits mit einem Misstrauensantrag drohen. Hinzu kommt, dass die Konservative eine Minderheitsregierung anführt unter Duldung der nordirischen Unionistenpartei DUP, die das Abkommen ebenfalls ablehnen will.

Was aber, wenn der Vertrag weder rechtzeitig ratifiziert noch der Austritt verschoben wird? Dann würde es zur ungeregelten Scheidung kommen ohne Übergangsfristen, zudem zu einer harten Grenze zwischen der Republik Irland und der zum Königreich gehörenden Provinz Nordirland. Die Folgen eines No-Deal-Szenarios sind nicht abzusehen. Einig sind sich Beobachter, dass ein abrupter Bruch zu Chaos und großer Unsicherheit an den Finanzmärkten führen würde. Zudem drohen am Zoll lange Wartezeiten sowie kilometerlange Staus vor dem Fährhafen in Dover. Manche befürchten eine Lebensmittelknappheit und neue Unruhen an der irischen Grenze. In den vergangenen Wochen zog Theresa May über die Insel und gab nur eine Devise aus: „Mein Deal, kein Deal oder kein Brexit.“ So versuchte sie, sowohl die EU-Skeptiker als auch die Europafreunde von ihrem Kompromiss zu überzeugen. Könnte sie morgen also doch gewinnen? Dann scheidet das Königreich Ende März wie geplant aus, und die Übergangsphase beginnt, in der die Briten zuerst im Binnenmarkt sowie in der Zollunion verbleiben. Alle EU-Regeln gelten weiter auf der Insel, nur ein Mitspracherecht hat der Drittstaat dann nicht mehr.

Es handelt sich bei der mindestens bis Ende 2020 dauernden Übergangsperiode um eine Schonfrist für die Wirtschaft. Zudem wollen London und Brüssel die künftige Beziehung verhandeln. Einige Brexit-Gegner im Parlament hoffen, dass es so weit nicht kommt. Sie wollen mit der Ablehnung des Abkommens ein erneutes Referendum erzwingen – ihre Chancen stehen schlecht. Sowohl die Regierung unter May als auch die Opposition unter Labour-Chef Jeremy Corbyn haben stets betont, das Votum vom Juni 2016 respektieren zu wollen. Beide Seiten lehnen es ab, abermals das Volk zu befragen. Noch. Die Position von Labour könnte sich in naher Zukunft ändern – je nach Stand der Umfragen in der gespaltenen Bevölkerung. Einfach würde es ohnehin nicht. Denn erst müsste es zu Neuwahlen kommen, und ob der EU-Skeptiker Corbyn dann wirklich für eine zweite Volksabstimmung eintritt? Ob Labour eine Wahl überhaupt gewinnen würde? Oder doch ein konservativer Brexit-Anhänger wie Ex-Außenminister Boris Johnson? Welche Alternative würde eine Mehrheit im Parlament erreichen? „Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was passieren wird“, antwortete kürzlich ein BBC-Reporter auf die Frage nach der Zukunft – und sprach dem politischen Westminster aus der Seele.

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