Stabile Regierung, große AufgabenVom islamistischen Aufhetzer zum erfolgreichen Regierungschef

Ankara. Nach dem Sieg von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und seiner islamisch-konservativen AKP bei der Parlamentswahl in der Türkei steht das Land vor einer neuen Ära

 Wahlsieger Recep Tayyip Erdogan und seine Frau Emine winken am Wahlabend den Anhängern der Partei AKP zu. Foto: dpa

Wahlsieger Recep Tayyip Erdogan und seine Frau Emine winken am Wahlabend den Anhängern der Partei AKP zu. Foto: dpa

Ankara. Nach dem Sieg von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und seiner islamisch-konservativen AKP bei der Parlamentswahl in der Türkei steht das Land vor einer neuen Ära. Für die gemeinsame Arbeit aller Parteien an einer neuen Verfassung bestehen beste Voraussetzungen, denn im neuen Parlament sind mehr politische Überzeugungen und Bevölkerungsgruppen vertreten als je zuvor: mehr Frauen, mehr junge Leute, der erste Christ seit einem halben Jahrhundert. Und die AKP hat kein Eingreifen der Armee mehr zu befürchten - einem großen Reformwerk steht also nichts im Wege. "Es gibt keine Ausreden mehr", sagte der Kommentator Rusen Cakir im Fernsehen. Die Frage ist nur, ob Erdogan das genauso sieht.In seiner Siegesrede nach dem Triumph vom Sonntagabend versicherte der 57-Jährige, er habe die Botschaft des Wählers verstanden: "Die Menschen haben uns gesagt, dass die neue Verfassung durch Kompromiss, Beratungen und Verhandlungen entstehen soll." Mit 49,9 Prozent der Stimmen hat die seit 2002 regierende AKP zwar ein neues Rekordergebnis eingefahren, das Ziel einer Zweidrittel-Mehrheit im neuen Parlament aber klar verfehlt.

Seit langem besteht in Ankara grundsätzliche Einigkeit darüber, dass die Türkei eine neue Verfassung braucht, weil die bisherige, 1982 im Auftrag der Militärs entstandene Verfassung die Demokratie lähmt. Noch vor vier Jahren drohten die Militärs offen mit einem Staatsstreich gegen die AKP und beriefen sich dabei nicht zuletzt auf diese Verfassung. Inzwischen sind die Militärs entmachtet. "Nun herrschen faire Bedingungen", kommentierte gestern die regierungsnahe Zeitung "Zaman". Erdogan versprach, er werde mit den Parteien reden, und auch mit Vertretern der ethnischen und religiösen Minderheiten. Jeder werde sich in der neuen Verfassung wiederfinden.

Erdogan-Kritiker erinnern sich jedoch nur zu gut daran, dass der Ministerpräsident nach dem Wahlsieg von 2007 vom selben Balkon am AKP-Hauptquartier in Ankara herab eine ganz ähnliche Rede hielt - und anschließend sofort alle Kompromiss-Beteuerungen vergaß. Deshalb ist es zumindest denkbar, dass Erdogan nun, da er die Verfassung nicht alleine schreiben kann, keine rechte Lust mehr auf das Projekt hat.

Doch Erdogan weiß auch, dass das Parlament jetzt eine weit bessere Grundlage für eine Einigung bildet als je zuvor. Die AKP, die Oppositionsparteien CHP und MHP und die erstarkte Kurdenfraktion vertreten gemeinsam 40 von 50 Millionen Wählern im Land - es gibt keine wichtige politische Kraft, die wegen der hohen Zehn-Prozent-Hürde aus dem Parlament ausgeschlossen bleibt. Das gibt der neuen Volksvertretung ein hohes Maß an Legitimität.

Unbeantwortet blieb zunächst die Frage nach Erdogans persönlichen Ambitionen. Die AKP-Statuten verbieten Parteimitgliedern, mehr als drei Legislaturperioden im Parlament zu sitzen. Für Erdogan wäre damit spätestens 2015 Schluss mit dem Ministerpräsidentenamt, doch womöglich strebt er nach Höherem. In der Verfassungsdebatte wirbt der Regierungschef für die Umwandlung des parlamentarischen Systems in eine Präsidialdemokratie - allgemein wird angenommen, dass Erdogan dann selbst gerne Präsident wäre. Es ist aber fraglich, ob er einen solchen Umbau in Gesprächen mit der Opposition durchsetzen kann. Dass sich Erdogan in absehbarer Zeit aufs Altenteil zurückzieht, erwartet niemand: "Ob als Ministerpräsident oder Präsident", kommentierte die Zeitung "Aksam": "Erdogan wird bis zum Jahr 2023 der Chef der Türkei bleiben, vielleicht auch noch länger."Istanbul. Als Recep Tayyip Erdogan 1999 wegen religiöser "Aufhetzung des Volkes" für vier Monate ins Gefängnis musste, war seine politische Karriere auf einem gefährlichen Tiefpunkt. Eine flammende Rede hatte den islamistischen Bürgermeister von Istanbul hinter Gitter gebracht. "Die Minarette sind unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme, die Moscheen unsere Kasernen und die Gläubigen unsere Armee", hatte er bei einer Veranstaltung der später verbotenen Wohlfahrtspartei (RP) ein Gedicht zitiert.

Zwölf Jahre später ist Erdogan der wohl mächtigste Regierungschef der Türkei seit Jahrzehnten. Seine in Abkehr von den Fundamentalisten 2001 gegründete Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) hatte er in wenig mehr als einem Jahr an die Macht geführt und dem Land eine nicht gekannte Phase der politischen Stabilität und des wirtschaftlichen Aufschwungs gebracht. Die islamisch-konservative und zugleich moderne politische Kraft verdrängt die alte, säkulare Elite nun Schritt für Schritt.

Sein politischer Ziehvater war Necmettin Erbakan, die inzwischen gestorbene graue Eminenz des politischen Islam in der Türkei. Auf dem Ticket der Wohlfahrtspartei wurde Erdogan mit 40 Jahren Oberbürgermeister der Metropole Istanbul. Er präsentierte sich als Saubermann, der soziale Leistungen ausbaute und die Tilgung des Schuldenberges anging. Doch schon damals gab es Streit um den Ausschank von Alkohol und nach Jungen und Mädchen getrennte Schulbusse.

Seine Gegner beschuldigen ihn bis heute, eine versteckte islamistische Tagesordnung zu verfolgen. Dass Erdogan immer autoritärer auftritt, hat ihn inzwischen die Unterstützung liberaler Kräfte gekostet. dpa

"Erdogan wird bis 2023 der Chef der Türkei bleiben, vielleicht auch noch länger."

Die Zeitung "Aksam" über Erdogans Zukunftspläne

Hintergrund

Das neue Parlament vertritt die Gruppen der türkischen Gesellschaft besser als vorher. Die Kurdenpartei BDP stellt jetzt 36 Abgeordnete, mehr als je zuvor. Zum ersten Mal zogen Abgeordnete unter 30 Jahren ins Parlament ein. Der Anwalt Erol Dora wurde als erster christlicher Abgeordneter seit den 1960ern gewählt. Der Frauenanteil stieg auf 14 Prozent (bisher neun Prozent). Zudem haben Kandidaten Mandate gewonnen, die bisher wegen des Vorwurfs regierungsfeindlicher Verschwörungen in Untersuchungshaft saßen. Radikale Linke sind ebenso vertreten, und sogar Promis gibt es: Ex-Fußballstar Hakan Sükür ist jetzt Abgeordneter der AKP. gü

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort
NBA-TriumphDirk Nowitzki hat als erster deutscher Basketballer den Meistertitel in der nordamerikanischen Profiliga NBA gewonnen. Als Weißer hat er sich damit in einem Land, in dem der Basketballsport von Farbigen dominiert wird, selbst in den Olymp gehie
NBA-TriumphDirk Nowitzki hat als erster deutscher Basketballer den Meistertitel in der nordamerikanischen Profiliga NBA gewonnen. Als Weißer hat er sich damit in einem Land, in dem der Basketballsport von Farbigen dominiert wird, selbst in den Olymp gehie