Sprachenstreit stürzt Belgien wieder einmal ins Chaos

Brüssel. Mit Rücktritten kennt Yves Leterme (49, Foto: afp) sich inzwischen bestens aus. Gestern war es wieder zu so weit: Zum dritten Mal musste der amtierende, konservative, belgische Regierungschef bei König Albert II. sein Gesuch um Entlassung aus dem Amt einreichen. Zum zweiten Mal sagte der Monarch Nein

Brüssel. Mit Rücktritten kennt Yves Leterme (49, Foto: afp) sich inzwischen bestens aus. Gestern war es wieder zu so weit: Zum dritten Mal musste der amtierende, konservative, belgische Regierungschef bei König Albert II. sein Gesuch um Entlassung aus dem Amt einreichen. Zum zweiten Mal sagte der Monarch Nein. Keine drei Monate vor der Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft könne sich das Land einen solch "schweren Schaden" nicht leisten, entschied das blaublütige Staatsoberhaupt. Leterme, der zuletzt Ende 2009 ins Amt kam, muss also weiterwurschteln. Auslöser der dritten schweren Regierungskrise seit den Wahlen im Juni 2007 ist wieder einmal der Sprachenstreit in dem aus drei Gemeinschaften bestehenden Zehn-Millionen-Staat. Am Vormittag waren die flämischen Liberalen der Partei "Open VLD" aus der Fünf-Parteien-Koalition ausgeschert. Fast fünf Monate lang hatte der frühere Regierungschef Jean-Luc Dehaene nach einer Kompromissformel für den künftigen Status der Landeshauptstadt Brüssel gesucht. Seine Vorschläge, die strikt geheim gehalten werden, stießen aber auf massiven Widerstand. Damit war die seit Jahren überfällige Staatsreform wieder einmal geplatzt. Im Kern geht es um die Frage, ob der Wahlkreis mit den Ortschaften Brüssel, Halle und Vilvoorde (BHV) weiter sowohl zum flämischen wie auch zum frankophonen Landesteil gehört oder geteilt werden muss. Der bisherige Status hat gravierende politische Folgen: Während in Flandern und der Wallonie nur für die dortigen Parteien und ihre Kandidaten votiert werden kann, hat der Brüsseler Einwohner die freie Wahl. Der Streit eskaliert vor allem in den Umlandgemeinden, die häufig von französischsprachigen Bürgern bewohnt werden, aber auf flämischem Boden liegen. So blockieren Vertreter Flanderns seit Jahren die Ernennung dreier frankophoner Gemeindebürgermeister. Obwohl die Liberalen nun aus der Regierung ausgeschieden sind, könnte Leterme eigentlich weiterregieren. Die flämischen Christdemokraten (CD&V) haben zusammen mit den französischsprachigen Parteifreunden (CDH), den Sozialisten (PS) und den wallonischen Liberalen (MR) durchaus eine Mehrheit. Dennoch kann es sich Leterme kaum leisten, ein Regierungsbündnis zu führen, in dem nur eine politische Kraft Flanderns vertreten ist. Leterme braucht für die anstehenden Reformen eine deutlich breitere Basis. Die Landesteile entzweit eine breite ökonomische Kluft. Die Wallonie gilt als wirtschaftlich rückständig und muss von Flandern pro Jahr mit etwa zehn Milliarden Euro am Leben gehalten werden. Die Bereitschaft zu diesen Transferleistungen, die sich für eine vierköpfige Familie auf rund 14 000 Euro pro Jahr summieren, sinkt, seitdem in der Krise auch das boomende Flandern ins Straucheln gekommen ist. Nicht nur Opel in Antwerpen steht vor dem Aus, auch andere Autobauer und Zulieferer spüren die sinkende Nachfrage. Hinzukommen massive innenpolitische Herausforderungen. In Brüssel wird seit gestern Nachmittag wieder verhandelt. So ist offen, ob es noch vor dem Amtsantritt des Ministerpräsidenten als EU-Vorsitzender Neuwahlen gibt oder ob sich Leterme noch einmal retten kann. Dann allerdings würde er zum Überlebenskünstler. Denn drei Rücktritte (einen davon noch in der Zeit der Koalitionsverhandlungen) haben nicht viele Regierungschefs in Europa überlebt. Meinung

Ein Schlichter gesucht

Von SZ-KorrespondentDetlef Drewes Der belgische Sprachenstreit, über den nun zum wiederholten Mal eine Regierung gestolpert ist, hat mit belächelnswertem Lokalkolorit nichts zu tun. Das Land hat nie so etwas wie einen wirklich funktionierenden föderalen Ausgleich geschaffen, der auch in den Herzen der Menschen verankert werden konnte. Bis heute sucht man eine belgische Identität vergebens, die Einwohner fühlen sich als Flamen, als Wallonen oder als Mitglied der deutschsprachigen Gemeinschaft. Das hat dazu geführt, dass der Wunsch nach immer größerer Selbständigkeit wucherte. Wirklich lösen könnte die notwendige Aufgabe einer Staatsreform wohl nur eine Persönlichkeit, die von allen gleichermaßen anerkannt ist. Aber genau die fehlt. Die eskalierenden Gegensätze erfordern eine Politikerfigur, die über allen steht. Aber woher sollte die nach Jahren des Streits kommen?

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