So weit die Füße tragen

Reichenbach. Wie viel Musik von Marianne Rosenberg hält der Mensch an einem Tag und in einer Nacht aus? Doch viel. Ausdauerlauf jenseits des Marathons macht nicht nur gesund, sondern auch leidensfähig. Wer zwei Mal rund um die Uhr an einem Stück rennt, hat so viel um die Ohren, dass es auf je ein Dutzend "Marleen" und "Ich bin wie du" nicht ankommt

 Peter Wagner beim 24-Stunden-Lauf: morgens nach dem Start und in der "langen Nacht von Reichenbach". Fotos: Eddy Hans/Kersten Mahler

Peter Wagner beim 24-Stunden-Lauf: morgens nach dem Start und in der "langen Nacht von Reichenbach". Fotos: Eddy Hans/Kersten Mahler

Reichenbach. Wie viel Musik von Marianne Rosenberg hält der Mensch an einem Tag und in einer Nacht aus? Doch viel. Ausdauerlauf jenseits des Marathons macht nicht nur gesund, sondern auch leidensfähig. Wer zwei Mal rund um die Uhr an einem Stück rennt, hat so viel um die Ohren, dass es auf je ein Dutzend "Marleen" und "Ich bin wie du" nicht ankommt. Vermutlich ist es sogar so, dass akustische Dauerfolter aus großen Lautsprechern einen solchen Wettkampf erst abrundet und der Persönlichkeitsentwicklung des Athleten förderlich ist.Deshalb also keinerlei Klage über die 23. Deutsche Meisterschaft im 24-Stunden-Lauf im sächsischen Vogtland: "Die lange Nacht von Reichenbach", bestens organisiert, Startgeld 40 Euro, jeder darf antreten. Warum ich "so etwas" mache? Weil ich es - nicht zuletzt dank regelmäßiger 70 bis 120 Laufkilometer pro Woche - gut kann und gern tue. Andere können Madonnen schnitzen oder Drehbücher schreiben. Für mich ist das Glücksgefühl, einen 24-Stunden-Lauf mit einem guten Ergebnis beendet zu haben, mit keinem anderen Empfinden vergleichbar. Es ist wunderbar, etwas zu beherrschen, was Jahr für Jahr allenfalls 200 andere Leute auf der Welt auch noch so gut hinbekommen.

Also 600 Kilometer hin mit dem Mietbus. 137 Teilnehmer - ein Viertel davon Frauen - aus der ganzen Republik sind am Start, darunter neun von den Lauftreff-Freunden (LTF) Marpingen sowie der Riegelsberger Jakob Lang, deutscher Meister in der Altersklasse 70. Die Regeln sind übersichtlich: Wir haben von Samstag um 10 Uhr bis Sonntag um 10 Uhr Gelegenheit, so weit zu laufen, wie wir können. Dazu steht uns eine 1197 Meter lange Runde zur Verfügung. Stundenlauf-Wettbewerbe müssen auf übersichtlichen Schleifen ausgetragen werden, anders wären die Leistungen nicht kontrollierbar und die Sportler nicht zu beköstigen.

Außenstehende wenden ein, das Rundendrehen müsse doch "langweilig" sein. Es kann aber nicht darum gehen, Abwechslung anzubieten. Ich brauche eine Strecke, die ich mir schnell einprägen kann, die ich quasi im Schlaf beherrsche, um viele Kilometer zu schaffen. Außerdem habe ich mit mir und meinen Befindlichkeiten, meiner Kleidung, den Rundenzeiten und nicht zuletzt mit den kommenden und wieder gehenden Wehwehchen genug zu tun.

Bei solchen Veranstaltungen, wo eine vertraute Ultralauf-Szene zusammenfindet, wird übrigens sehr viel geredet. Eine Besonderheit des Stundenlaufes ist ja, dass Erster und Letzter immer beisammen sind und sich ständig begegnen. Sie fangen gemeinsam an und beenden das Rennen nach derselben, der 1440. Minute.

Auch liebe Gäste schauen vorbei. Den sächsischen 100-Kilometer-Läufer Thomas König frage ich kurz vor Einbruch der Dunkelheit um Rat zur Krisenbewältigung. "Sag' immer: Es tut nicht weh, es tut nicht weh", empfiehlt er. Das mache ich, und es hilft tatsächlich. Außerdem habe ich mir in sechs Jahren 24-Stunden-Lauf-Erfahrung angewöhnt, nicht mit äußeren Umständen zu hadern, sondern möglichst alles zu nehmen, wie es kommt. Gegen Marianne Rosenberg singe ich gelegentlich zart mit eigenen Liedern an: "Any Road" von George Harrison und Didi-Hallervorden-Peter-Ludolf-Gesumm: "Palimpalim".

In Reichenbach geht es abwechslungsreich und meist etwas hügelig - was gut gegen Ermüdung ist - über Asphalt, Betonsteine und 350 Meter Tartanbahn des Stadions. In dem Oval sind elektronische Rundenerfassung, Toiletten, Duschen, Küche und, tja, die Musikanlage angesiedelt. Außerdem die wichtigsten Bezugspersonen: unsere jeweils eigenen Betreuer mit ihren Zelten und Verpflegungsständen.

Wir Marpinger haben für die Motivation Eddy Hans und fürs Handwerk Johannes Schulz dabei. Zwei Meister ihres Fachs, die 24 Stunden auf den Beinen sind und besser als ich selbst wissen, was zu welcher Stunde gut für mich ist. Uwe, einen Einheimischen, haben wir auf Honorarbasis engagiert. Er weiß zum Beispiel, wo man nachts ein kaltes alkoholfreies Weizenbier der Lieblingssorte organisiert. Ich habe mit den Männern schon vorher vereinbart, dass sie mir nachts, wenn normale Müdigkeit und Erschöpfung zusammenkommen, keine Wehleidigkeit durchgehen lassen. Mein Marschziel heißt nämlich: 200 Kilometer plus x, nachdem ich diese Marke im Vorjahr wegen einer unnötigen Sitzpause um 1,6 Kilometer verpasst habe.

Ich verzichte auf die Verlockungen der Veranstalter-Küche, aus der morgens schon Salzkartoffeln, Nudeln mit Tomatensoße und Haferschleim gereicht werden. Auch die bei Ultraläufern beliebten Gummibärchen, Kekse, Schokoriegel, Bananen, Kuchen und Salzstangen verkneife ich mir. Stattdessen vertraue ich auf die selbst angerührte Maltodextrin-Brühe und Kohlenhydrat-Gels aus dem Sporthandel. Sie belasten den Magen nicht so wie feste Nahrung und liefern 15 000 Kalorien. Als Getränk begnüge ich mich mit Leitungswasser des örtlichen Zweckverbandes. Alle vier Runden, also etwa im Abstand von 30 bis 35 Minuten, halte ich kurz am Marpinger Verpflegungsstand. Alles in allem mache ich ungefähr 30 Minuten Rast.

Nach sechs Stunden ahne ich bereits: Es wird ein guter Wettkampf. Fast alle sind über ihre Verhältnisse losgerannt und büßen mit früher Ermüdung. Das beflügelt mich zusätzlich. Meine Beine sind noch leistungsfähiger als sonst, die Schritte werden kaum kürzer. Nach zwölf Stunden und gut 105 Kilometern liege ich nur auf Rang 30, kann aber in der Nacht ein Tempo von etwa 8,5 Kilometern pro Stunde halten. Als die Sonne aufgeht, erfreut mich Stadionsprecher Reiner Zimmermann mit der Nachricht, dass ich soeben in die Top 10 gerannt sei. Am Ende bin ich mit 206,541 Kilometern Sechster im Gesamt-Klassement und Deutscher Vizemeister in meiner Altersklasse 50 plus. Mit meinen Vereinskameraden Gernot Helferich und Stefan Fecher werde ich Deutscher Vizemeister in der Mannschaft. Unsere Frauen Heike Angel, Melanie Straß und Silke Helferich gewinnen Gold. Wir haben alles richtig gemacht.

Am Ende hat Lauffreund Martin Sattler aus Baden-Württemberg einen Vorschlag: "Ihr müsst unbedingt mal zum 48-Stunden-Lauf nach Gols kommen", sagt er. Dort hört man sicher auch viel Marianne Rosenberg. "Für mich

ist dieses Glücksgefühl mit keinem anderen Empfinden vergleichbar."

Peter Wagner über einen erfolgreichen 24-Stunden-Lauf

Auf einen Blick

Veranstalter der Deutschen Meisterschaft im 24-Stunden-Lauf ist die Deutsche Ultramarathon-Vereinigung mit ihren 1600 Mitgliedern. Der 24-Stunden-Lauf ist eine weltweit betriebene Disziplin, die demnächst sogar mit Anerkennung durch den Deutschen Leichtathletik-Verband rechnen darf.

Im Saarland findet am 10./ 11. September im St. Ingberter Mühlwaldstadion ein 24-Stundenlauf statt (www.solilauf.de). wp

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