"So ein Botschafter muss nach Hause geholt werden"Obama reist überraschend nach Afghanistan

Berlin. Er ist der höchste Vertreter der USA in Deutschland. Fast täglich kommt er mit deutschen Gesprächspartnern zusammen, auf Empfängen, bei Veranstaltungen oder bei Arbeitsessen. Immer lächelt Botschafter Philip Murphy (Foto: dapd) freundlich und tut so, als ob in den letzten Tagen nichts geschehen wäre

Berlin. Er ist der höchste Vertreter der USA in Deutschland. Fast täglich kommt er mit deutschen Gesprächspartnern zusammen, auf Empfängen, bei Veranstaltungen oder bei Arbeitsessen. Immer lächelt Botschafter Philip Murphy (Foto: dapd) freundlich und tut so, als ob in den letzten Tagen nichts geschehen wäre. Sein jeweiliges Gegenüber lächelt dann meist zurück - und denkt sich vermutlich seinen Teil. Kann dieser Mann noch seriös die Vereinigten Staaten repräsentieren, wo doch sein Name hinter den vielen Läster-Depeschen über deutsche Spitzenpolitiker steht, die von der Botschaft nach Washington geschickt und von Wikileaks veröffentlicht wurden? In der FDP mehren sich die Stimmen, die die Abberufung des 53-Jährigen fordern. Entscheiden kann dies aber nur die US-Administration.

Nachdem Guido Westerwelles Büroleiter Helmut Metzner als Informant der amerikanischen Botschaft bei den Koalitionsverhandlungen im Herbst 2009 enttarnt worden ist, richten sich jetzt die Blicke auf den Botschafter selbst. FDP-Abgeordnete sprechen aus, was andere Politiker in Berlin durchaus denken: Eine vertrauensvolle Zusammenarbeit sei kaum mehr möglich, so der Liberale Patrick Döring. Sein Parteifreund Hans-Michael Goldmann wird noch deutlicher: "So ein Botschafter muss nach Hause geholt werden." Die Oppositionsparteien werfen den Liberalen indes vor, damit nur von parteiinternen Problemen ablenken zu wollen.

Die FDP-Führung selbst gibt sich zurückhaltend. Die Forderung nach Murphys Abzug mache man sich nicht zueigen, das sei die persönliche Meinung einzelner. Dennoch ist der versteckte Hinweis zu hören: "Die USA sind selbst in der Lage zu bewerten, wie die Debatte läuft." Seitens der Bundesregierung hieß es gestern, sie fordere die Abberufung des Botschafters "ausdrücklich nicht". Aber auch der Regierung ist bewusst, dass sich viele Politiker jetzt genauer überlegen, mit wem man künftig offen spricht. Speziell dann, wenn der Gesprächspartner Murphy heißt.

Der US-Botschafter ist kein gelernter Diplomat, sondern Wirtschaftswissenschaftler und Investmentbanker. Er ist Vater von vier Kindern und pflegt einen eher unkomplizierten Stil auf dem diplomatischen Parkett. In diesen Tagen ist Murphy auffällig darum bemüht, den Schaden, den die Veröffentlichung der Geheimdokumente verursacht hat, mit möglichst viel Charme zu begrenzen. Wo er auch auftritt, lächelt er einfach darüber hinweg. Zugleich gibt er bereitwillig Interviews, in denen er sich und seine Mitarbeiter verteidigt, ohne dabei allerdings all zu viel Reue zu zeigen. Das ärgert viele in Berlin. Außerdem sucht Murphy offenbar den Kontakt zu den Politikern, um das Vorgehen der Botschaft zu erläutern.

Einiges zurechtrücken musste auch Helmut Metzner, Westerwelles Büroleiter im Parteihaus, der nun eine andere Aufgabe bekommen soll. Welche, ist noch unklar. Was dem 41-Jährigen von der FDP-Führung vor allem vorgeworfen wird, ist, dass er erst vier Tage nach den ersten Medienberichten eingeräumt hat, interne Unterlagen aus den Koalitionsverhandlungen an die US-Botschaft weitergegeben zu haben. Da betonten Westerwelle und seine Leute noch, dass es bei der FDP keinen "Maulwurf" gebe. Die Sache an sich wird als nicht gravierend angesehen, weil alles, was Metzner verriet, öffentlich bekannt gewesen sei. Zudem soll er nicht mit dem Botschafter, sondern nur mit "untergeordneten Botschaftsmitarbeitern" gesprochen haben. Auch die werden jetzt um ihre Kontakte neu buhlen müssen - wie Murphy.Washington. Eigentlich sollte sich der Präsident zu dem jüngsten Anstieg der Arbeitslosenzahlen in den USA äußern. Da jagte die Blitzmeldung über den Nachrichtenticker, Barack Obama sei zu einem nicht angekündigten Besuch in Afghanistan gelandet. Kurz darauf flimmerten Bilder von der improvisierten Rednerbühne über die Fernsehkanäle. Vollbesetzt mit Soldaten, die auf den Präsidenten warteten. Eine Begegnung mit dem afghanischen Präsidenten Hamid Karzai kam nicht zustande. Angeblich wegen schlechten Wetters. Analysten sehen in dem PR-Coup des Weißen Hauses einen Versuch, von den am Freitag durch Wikileaks veröffentlichten Diplomaten-Nachrichten abzulenken. Diese beschreiben ein Ausmaß von Bestechung, Erpressung und Veruntreuung, das auch für Diplomaten in Kabul schockierend ist. So übermittelte die US-Botschaft im Januar, nur ein Minister stehe nicht unter Korruptionsverdacht. Im Oktober 2009 fragte Botschafter Karl W. Eikenberry in Richtung Washington: Wie soll man Korruption bekämpfen und die Akzeptanz der Regierung bei den Afghanen erhöhen, wenn die Schlüsselfiguren in der Regierung selbst korrupt seien. Schwere Bedenken wurden auch gegen Karsai laut. Eikenberry beschrieb den afghanischen Präsidenten einerseits als "paranoide und schwache Persönlichkeit", andererseits als "durchtriebenen Politiker".

Derweil gerät Wikileaks zunehmend unter Druck. Am Freitag war die Plattform nicht mehr unter der bekannten Webadresse wikileaks.org erreichbar. Letztere war vom zuständigen US-Dienstleister gelöscht worden. Die Plattform wich auf die Adresse wikileaks.ch aus, die auf die Schweizer Piratenpartei registriert ist. Am Abend war auch diese nicht mehr erreichbar. Als Reaktion auf Morddrohungen gegen Wikileaks-Chef Julian Assange erhöhten seine Mitarbeiter ihre Sicherheitsvorkehrungen. Seine Mitarbeiter träfen alle Vorsichtsmaßnahmen, zu denen sie angesichts der Tatsache, dass sie es "mit einer Supermacht zu tun" haben, in der Lage seien, sagte Assange in einem Online-Forum der britischen Zeitung "Guardian". sp/dpa/afp

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