Regierungsbildung Schicksalstage einer Kanzlerin

Berlin · Angela Merkel kann nach dem Jamaika-Aus zwischen Pest, Cholera und Neuwahlrisiko wählen. Für einen neuen Urnengang würde sie wieder als Spitzenkandidatin bereitstehen.

Der Blick: gesenkt. Die Laune: im Keller. Die Zukunft: offen. Kanzlerin Merkel im Dienstwagen nach einem Gespräch mit Präsident Steinmeier zum weiteren Vorgehen nach dem Jamaika-Aus.

Der Blick: gesenkt. Die Laune: im Keller. Die Zukunft: offen. Kanzlerin Merkel im Dienstwagen nach einem Gespräch mit Präsident Steinmeier zum weiteren Vorgehen nach dem Jamaika-Aus.

Foto: dpa/Michael Kappeler

Die Staatskrise ist da. Sogar Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat schon seine Besorgnis über die Lage in Deutschland geäußert. Genau zwölf Stunden nach dem Scheitern von „Jamaika“ saß Bundeskanzlerin Angela Merkel Montagmittag im Schloss Bellevue mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zusammen. Was nun, Frau Merkel, dürfte der gefragt haben. Die CDU-Chefin hat noch drei Möglichkeiten: Eine Große Koalition mit der SPD, eine Minderheitsregierung mit Grünen oder Liberalen sowie Neuwahlen. Keine davon hat sie allein in der Hand und keine ist prickelnd.

Steinmeier machte den Ernst der Lage bei einem Presseauftritt am Nachmittag deutlich: Eine solche Situation habe es in 70 Jahren noch nicht gegeben. „Das ist der Moment, in dem alle Beteiligten noch einmal innehalten und ihre Haltung überdenken sollten.“  Nicht wenige interpretierten Steinmeiers Sätze als Aufforderung an die eigene frühere Partei, die SPD. Denn mit dem Scheitern von Jamaika richtete sich der Blick sofort auf die Möglichkeit einer großen Koalition, die die SPD seit dem Wahlabend jedoch kategorisch ausgeschlossen hatte. Aber die Sozialdemokraten wollen noch immer nicht. Morgen will SPD-Kanzlerkandidat Schulz mit Steinmeier zu einem Gespräch zusammentreffen. Angela Merkel sagte, vom Ergebnis dieses Gesprächs werde abhängen, ob sie noch einmal auf die SPD zugehe.

Theoretisch könnte Merkel auch eine Minderheitsregierung bilden. Sie wolle zwar nicht „niemals“ sagen, meinte die Kanzlerin dazu gestern Abend. Aber Deutschland müsse stabil regiert werden. Denkbar wären die Grünen als Partner der Union. Immerhin sind sich die beiden Seiten in den wochenlangen Gesprächen sehr viel näher gekommen als bisher. Der Amerika-Beauftragte der Bundesregierung und CDU-Abgeordnete Jürgen Hardt schlug bereits vor, eine solche Minderheitsregierung auf der Basis der Verhandlungsergebnisse wenigstens für eine Übergangszeit zu bilden. „Ein klares schwarz-grünes Regierungsprogramm würde auch den Bundespräsidenten überzeugen, das Wagnis einer Minderheitsregierung einzugehen.“ Einer solchen Regierung würden im Bundestag jedoch 42 Stimmen fehlen. Sie wäre nicht stabil.

Die andere Variante, eine Minderheitsregierung mit der FDP, haben die Liberalen in der Nacht zu gestern ziemlich verbaut. Ihr Verhalten hat bei den Christdemokraten Kopfschütteln und Verärgerung hinterlassen. „Es gab keinen rationalen Grund zu gehen“, sagte CDU-Generalsekretär Peter Tauber. Die Kanzlerin müsste bei einer Minderheitsregierung mit der FDP nicht nur die fehlenden 29 Stimmen suchen, sondern immer auch noch mit der Unberechenbarkeit des liberalen Partners rechnen.

Bleiben Neuwahlen. Sie kann nur der Bundespräsident einleiten. Der aber betonte gestern, man könne die Verantwortung nicht einfach an die Wähler zurückgeben. Steinmeier will diesen Ausweg so schwer wie möglich machen. Das Verfahren ist zudem kompliziert. Würde es noch vor Weihnachten eingeleitet, könnte es frühestens Ende Februar zu neuen Bundestagswahlen kommen. Vorher muss Merkel zwei Mal eine absolute Mehrheit im Bundestag verfehlen. Zwei Mal würde Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble also verkünden: „Die Kandidatin Angela Merkel hat die erforderliche Mehrheit nicht erreicht“, ehe sie dann wahrscheinlich im dritten Wahlgang zur Minderheitskanzlerin gewählt werden würde. Dann erst könnte Steinmeier über Neuwahlen entscheiden.

Dieser lange und komplizierte Prozess könnte in der Union leicht die Debatte aufflammen lassen, ob man tatsächlich ein fünftes Mal mit der 63-jährigen Langzeitkanzlerin antreten soll, zumal das Wahlergebnis so schlecht war. Allerdings, sie selbst will dann erneut kandidieren, wie sie gestern Abend im ZDF erklärte. Sie habe im Wahlkampf gesagt, sie trete für weitere vier Jahre an, da wirke es „komisch“, wenn sie jetzt nach zwei Monaten einen Rückzieher machte, sagte die CDU-Politikerin.

Doch für ihre Wiederwahl gibt es ein weiteres Problem: die CSU. Für die seit ihrem historisch schlechten Abschneiden mit 38,8 Prozent bei der Bundestagswahl tief in einer Krise steckende Christsozialen kommt das Jamaika-Aus zu einer absoluten Unzeit: 2018 steht in Bayern die Landtagswahl an, nur wenn die Partei hier ihre absolute Mehrheit verteidigen kann, wird sie auf Dauer ihr bundespolitisches Gewicht beibehalten können.

Innerhalb der CSU fordern deshalb viele Mitglieder von Seehofer den Rückzug, mindestens als Ministerpräsident, und wünschen sich Finanzminister Markus Söder als Nachfolger und Spitzenkandidat. Aber auch er ist längst nicht unumstritten. Das letzte Wort hat aber Seehofer selbst, die bayerische Verfassung sieht kein konstruktives Misstrauensvotum zur Amtsenthebung vor. Sollte es nun aber zur Neuwahl kommen, könnte dies tatsächlich Seehofers politisches Ende sein. An diesem Donnerstag will er seine Zukunftspläne bekanntgeben.

Hier wird auch Merkel genau hinhören. Denn sie braucht eine starke CSU – und zwar hinter sich. Bislang ist das offiziell auch so der Fall. Sonntagnacht, als die Bundeskanzlerin vor die Kameras trat und das Scheitern kommentierte, stand die gesamte Führung von CDU und CSU hinter ihr und applaudierte demonstrativ. Und ausgerechnet der bayerische Löwe Seehofer lobte ihre Verhandlungsführung: „Danke, Angela Merkel“.

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