„Sauerei“ und „Dreck“ im Bundestag

Berlin · In der letzten Bundestagssitzung vor der Wahl knöpft sich SPD-Kandidat Steinbrück noch einmal die Kanzlerin vor. Als schwere Kränkung empfinden es die Genossen, dass Merkel der SPD in einem Interview die Europa-Tauglichkeit abgesprochen haben soll.

Peer Steinbrück war auf 180. Das sei "weit mehr als eine Verirrung". Das werde sich seine Partei merken, empörte sich der SPD-Kanzlerkandidat. Und direkt an die Kanzlerin gewandt, polterte Steinbrück: "Sie müssen wissen, dass Sie damit Brücken zerstören." Angela Merkel ließ das nicht unberührt. Flugs verließ sie ihren Chefsessel, um sich mit Regierungssprecher Steffen Seibert zu beraten. Eigentlich sollte es bei der letzten Plenarsitzung des Bundestages in der zu Ende gehenden Legislaturperiode um die "Situation in Deutschland" gehen. Doch Steinbrück und die Kanzlerin nutzten die Situation, um ein weiteres Mal vor laufenden Kameras die Wahlkampftrommel zu rühren - und sich beim Thema Europa zu verhaken. Damit ging ihr TV-Duell vom Sonntag gestern sozusagen in die Verlängerung. Nur, dass die Fortsetzung deutlich aggressiver inszeniert war als der Auftakt. Und wohl auch etwas kurioser.

Anlass für Steinbrücks Erregung war nämlich eine Äußerung Merkels in einem Fernsehinterview, das noch gar nicht ausgestrahlt wurde. Sozusagen ein virtueller Streit. Die ARD hatte letzte Woche getrennt beide Kanzlerkandidaten für ein Doppelporträt befragt, Merkel ein paar Tage vor Steinbrück. Das Werk soll kurz vor der Wahl gesendet werden. Dabei konfrontierte der ARD-Reporter Steinbrück mit Merkels Aussage, dass die Sozialdemokraten europapolitisch unzuverlässig seien und erbat eine Stellungnahme. So erfuhr der Sozialdemokrat von dem Satz. Unzuverlässiger Kantonist in Sachen Europa, das ist das Letzte, was sich die SPD nachsagen lassen will. Hat sie doch bei aller Detail-Kritik Merkels Euro-Kurs stets mitgetragen. Ohne die SPD hätte der Rettungsschirm ESM nicht die erforderliche Mehrheit gefunden. Auch wenn die Bauchschmerzen bei vielen Genossen groß waren. "Wir unzuverlässig?", wiederholte Steinbrück deshalb mehrfach und redete sich in Rage. Diesen Ball nahm auch SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier auf, um sich noch wortwuchtiger von Merkels Einlassung zu distanzieren: "Uns gegenüber ist das eine Sauerei." Die Kanzlerin werfe "mit Dreck" nach den Leuten, die zu Europa gestanden hätten, "als Ihre Leute schon die Flucht ergriffen haben", rief Steinmeier mit Blick auf die zahlreichen Euro-Skeptiker im schwarz-gelben Lager. Der Bundestag im Wahlkampfmodus.

Dafür hatte auch Merkels Rede zum Auftakt der Debatte gesorgt. Ihre Erfolgsbilanz nach dem Motto "Es waren vier gute Jahre" empfand die Opposition naturgemäß als Provokation. Auffällig war allerdings, dass die Kanzlerin auch die unerledigten Hausaufgaben ansprach. Die Altersarmut thematisierte Merkel genauso wie die Bedeutung der Pflege und eine entsprechende, aber noch ausstehende Reform. Dabei könnten womöglich auch die Beiträge nicht konstant bleiben, räumte die Kanzlerin ein.

Es waren genau die sozialen Schwachstellen, die Steinbrück der Amtsinhaberin beim TV-Duell vorgehalten hatte. Offenkundig wollte Merkel der SPD im Bundestag nun den Wind aus den Segeln nehmen. Der Herausforderer suchte trotzdem zu kontern: "Wer hat eigentlich in den letzten vier Jahren regiert? Alles was wichtig ist, haben Sie in die Zukunft projiziert", meinte Steinbrück. Daher seien die letzten vier Jahre auch "vier verlorene Jahre" gewesen. Nötig sei ein Neustart. "Dafür will ich als Bundeskanzler arbeiten und wirken."

Noch vor enigen Wochen hatte es nach einer solchen Formulierung viel Gelächter auf den Unionsbänken gegeben. Diesmal verhielt man sich dort weitgehend ruhig. Spätestens seit dem TV-Duell hat sich Steinbrück auch im Regierungslager einen gewissen Respekt erworben. Und bei aller frontalen Kritik an Merkel seitens der SPD - für eine große Koalition sind auch seit gestern nicht sämtliche Brücken abgebrochen. Am Rande des Plenums ging Steinmeier demonstrativ auf Unionsfraktionschef Volker Kauder zu - um ihm zum 64. Geburtstag zu gratulieren. So viel Höflichkeit muss schon sein.

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