Ruinen des Gräuels

Als Bundespräsident Joachim Gauck gestern nach Oradour-sur-Glane fuhr, fand er zunächst das „neue“ Dorf dort vor: eine beschauliche Gemeinde in der westfranzösischen Provinz nahe Limoges. Denn vom „alten“ Oradour-sur-Glane, ein paar hundert Meter entfernt, sind nur noch die Reste zu sehen: Ruinen früheren Lebens, das die deutsche Waffen-SS bei einem grausamen Massaker am 10.

Juni 1944 komplett ausgelöscht hat. Sie setzte das Dorf in Flammen und ermordete fast alle Bewohner, 642 Menschen. Oradour-sur-Glane gilt in Frankreich als Inbegriff für die unerträglichen Nazi-Gräuel im Zweiten Weltkrieg. Und selbst wenn einige Jahre später ein neuer Ort mit demselben Namen aufgebaut wurde, so ist er immer auch ein Mahnmal.

Der Bundespräsident ist zwar wenig bekannt in Frankreich, wo es keine Entsprechung für diese vor allem repräsentative Rolle gibt. Dass Gauck nun kommt, gilt dennoch als starke Geste. Bewusst fällt sein dreitägiger Staatsbesuch, der ihn außerdem nach Paris und in die europäische Kulturhauptstadt Marseille führt, ins Jubiläumsjahr der Unterzeichnung des Élysée-Vertrages zwischen den früheren Kriegsfeinden am 22. Januar 1963. Es ist die erste offizielle Visite eines deutschen Staatsmannes in Oradour-sur-Glane, obwohl bereits 2004 der damalige Kanzler Gerhard Schröder eingeladen war, der bei der Gedenkfeier an die Landung der Alliierten in der Normandie ausdrücklich die Opfer des Massakers erwähnte und von "tiefer Scham" über die Taten der "entfesselten, unmenschlichen Waffen-SS" sprach. Die Gemeinde werde einen historischen Moment erleben, sagt Bürgermeister Raymond Frugier: "Das ist genauso bedeutend wie der Händedruck von Mitterrand und Kohl in Verdun."

Begleitet wird Gauck von Präsident François Hollande, der jahrelang Bürgermeister des nahe gelegenen Städtchens Tulle war, ebenfalls Schauplatz eines Massakers am 9. Juni 1944, bei dem die SS-Soldaten Vergeltung für den wachsenden Widerstand in der Bevölkerung üben wollten und 99 Männer an Balkonen und Straßenlaternen aufhängten. Am Folgetag marschierten zwischen 120 und 200 Soldaten in Oradour-sur-Glane ein. Sie versammelten die überraschte Bevölkerung auf dem Marktplatz, trieben die Frauen und Kinder in die Kirche, sprengten den Kirchturm und schossen in die Menge. Die Männer wurden hingerichtet und angezündet, die Häuser geplündert und ebenfalls in Brand gesetzt. Sechs Menschen überlebten den Massenmord.

Einer von ihnen, der 87-jährige Robert Hébras, wird nun den hohen Besuch durch die Ruinen führen. Im vergangenen September verurteilte ihn ein Gericht in Colmar zur Zahlung eines symbolischen Euros und der Gerichtskosten in Höhe von 10 000 Euro, weil er in seinem 1992 veröffentlichten Bericht "Oradour-sur-Glane: Das Drama Stunde für Stunde" die Grenzen der Meinungsfrei heit überschritten habe. Er unterstellt darin den Elsässern unter den Soldaten, sich der deutschen Truppe nicht gegen ihren Willen, sondern freiwillig angeschlossen zu haben. Dagegen hatten Betroffene und Nachfahren im Elsass geklag.

Weil das französische Parlament nach der Verurteilung von 14 Elsässern durch ein Militärtribunal in Bordeaux 1953 ein Amnestiegesetz für diese erlassen hatte, verweigerte Oradour-sur-Glane 20 Jahre lang Vertretern des Staates jeden Besuch.

Auch zu Repräsentanten Deutschlands war der Kontakt unerwünscht. Es gäbe immer noch einige Leute, die Gaucks Besuch nicht wollten, sagt der Leiter des Erinnerungszentrums, Richard Jezierski. Doch er halte ihn für eine große Ehre.

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