Rettung in letzter Minute

Saarbrücken. Auf der Intensivstation der Kinderklinik auf dem Saarbrücker Winterberg kämpfen Ärzte um das Leben eines neun Monate alten Jungen. Der Säugling war am späten Mittwochabend von einem Notarzt massiv unterernährt und verwahrlost eingeliefert worden. Die Pflegekräfte waren erschüttert: Der Junge war skelettiert, nicht bei Bewusstsein, wog kaum mehr als drei Kilo

Saarbrücken. Auf der Intensivstation der Kinderklinik auf dem Saarbrücker Winterberg kämpfen Ärzte um das Leben eines neun Monate alten Jungen. Der Säugling war am späten Mittwochabend von einem Notarzt massiv unterernährt und verwahrlost eingeliefert worden. Die Pflegekräfte waren erschüttert: Der Junge war skelettiert, nicht bei Bewusstsein, wog kaum mehr als drei Kilo. Das Kind, das wohl von seiner Mutter (20) über einen längeren Zeitraum weder gefüttert noch gepflegt wurde, schwebte in akuter Lebensgefahr, als die Retter kamen. Sein Zustand konnte von den Medizinern stabilisiert werden. Nach Polizeiangaben bestand gestern aber weiterhin Lebensgefahr.

Rettungssanitätern und Arzt bot sich "ein erbärmlicher Anblick", als sie das Kind aus der vermüllten Zwei-Zimmer-Wohnung in der vierten Etage eines Mehrfamilienhauses in der Gabelsberger Straße (Alt-Saarbrücken) holten. Gegen die junge Frau, die in der Klinik festgenommen worden war, erließ ein Saarbrücker Richter gestern auf Antrag der Staatsanwaltschaft Haftbefehl wegen "versuchten Totschlags durch Unterlassen und Misshandlung eines Schutzbefohlenen". Sie wurde in die Justizvollzugsanstalt Zweibrücken gebracht. Haftrichter und Oberstaatsanwalt gehen von Fluchtgefahr aus.

Die allein erziehende Mutter, die ihren Sohn im März 2009 zur Welt gebracht hatte, hatte wohl selbst bemerkt, dass es dem Baby nicht gut ging. Deshalb habe die 20-Jährige, wie Polizeisprecher Georg Himbert sagt, ihre eigene Mutter informiert, die "schockiert" gewesen sei, als die den Jungen gesehen habe. Die Großmutter habe umgehend die Retter alarmiert. Der Notarzt informierte wiederum die Polizei. Die Frau, die ebenfalls in Saarbrücken wohnt, sagte gegenüber den Ermittlern, sie habe ihren Enkel zuletzt an Weihnachten gesehen, da sei noch alles in Ordnung gewesen. Die junge Mutter und ihr kleiner Sohn standen bislang nicht unter der Betreuung des zuständigen Jugendamtes beim Regionalverband Saarbrücken. Dessen Sprecher Stefan Kiefer sagte gestern: "Es gab keine Gefährdungsmeldung." Alle für Kinder vorgeschriebenen Vorsorge-Untersuchungen seien wahrgenommen worden. Zuletzt sei das Baby am 30. September einer Kinderärztin vorgestellt worden. Dies bestätigte auch Stephan Kolling vom Sozialministerium. Am 22. Dezember wurde die Mutter mit einem Routineschreiben auf die in den nächsten Wochen fällige Untersuchung "U 6" erinnert. Versäumt wurde offenbar ein für Ende Oktober mit der Ärztin vereinbarter Impftermin.

Das Jugendamt stand der 20-Jährigen allerdings wegen der Feststellung des Vaters beratend zur Seite und zahlte Unterhaltsvorschuss. Ein Vaterschaftstest wurde durchgeführt. Am 15. Januar soll das Familiengericht Saarbrücken darüber entscheiden.

Nachbarn in dem sechsgeschossigen Haus waren zutiefst erschüttert, als sie gestern von Journalisten erfuhren, dass unter ihrem Dach fast ein Säugling verhungert wäre. Sie schilderten die Mutter als "unauffällige, ruhige und liebe Frau", die vor etwa einem Jahr eingezogen sei.

Der Verteidiger der Mutter will den Haftbefehl gegen seine Mandantin nicht akzeptieren, bezeichnete ihn als "rechtlich unhaltbar". Er kündigte eine Beschwerde an. Schließlich sei es seine Mandantin gewesen, die über ihre Mutter Hilfe gerufen habe.

Meinung

Schockierender Fall

Von SZ-Redakteur

Michael Jungmann

Das Schicksal des neun Monate alten Saarbrücker Babys, das in der Obhut seiner absolut überforderten jungen Mutter fast verhungert wäre, geht unter die Haut. Der schockierende Fall belegt, dass ein absoluter Schutz für Kleinkinder, die im geschützten privaten Raum mit ihren Sorgeberechtigten aufwachsen, nicht gewährleistet werden kann. Bis die ratlose Mutter selbst Hilfesignale sendete, war niemandem, weder Nachbarn noch Angehörigen, aufgefallen, dass das Kind in Not war. Und als vor gut drei Monaten eine Ärztin im Rahmen der Pflicht-Vorsorge den Jungen untersucht hatte, muss die Welt für Mutter und Kind noch in Ordnung gewesen sein.

Hintergrund

Im Saarland haben in der Vergangenheit zwei weitere Fälle von verwahrlosten oder ausgesetzten Kindern Schlagzeilen gemacht:

Am 30. Januar 2009 hatte eine damals 21-Jährige in Freisen ihr zu diesem Zeitpunkt erst wenige Stunden altes Baby bei Eiseskälte vor einem Haus abgelegt. Das Kind wurde rechtzeitig von Passanten gefunden und gerettet. Am 18. Februar 2008 hatten Polizisten der Drogenfahndung zufällig bei einer Kontrolle ein 18 Monate altes Kind entdeckt, das mit seiner damals 29-jährigen Mutter in einer vermüllten Neunkircher Wohnung gelebt hatte. Von den katastrophalen Lebensumständen wussten die Beamten vorher nichts. red

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