Ratgeber gegen den Sozialtourismus

Brüssel · Die EU-Kommission will die hitzige Debatte um den Anspruch von EU-Ausländern auf Sozialleistungen mit einem Leitfaden beruhigen, doch Berlin legt sich quer. Solche Sozialleistungen soll es weiterhin nicht geben.

Eigentlich wollte Brüssels Sozialkommissar den Streit um Hartz-IV-Leistungen, der am Freitag ausgebrochen war, wieder beruhigen. Doch der lange versprochene "praktische Leitfaden", den László Andor gestern vorstellte, dürfte dazu kaum geeignet sein. Zwar betonte der Ungar, "dass wir unser Äußerstes tun, um klarzustellen, wie man auf der Grundlage bestehender EU-Gesetze gegen Betrug und Missbrauch vorgehen kann". Doch das 36-seitige Dokument liefert neben zahlreiche Beispielen und Regelungen beispielsweise für entsandte Arbeitnehmer nur einen klaren Hinweis: Die deutsche Praxis, der zufolge Zuwanderer weder innerhalb der ersten drei Monate ihres Aufenthaltes in der Bundesrepublik noch danach Anspruch auf Hartz-IV-Zahlungen haben, sofern sie arbeitslos bleiben, ist in den Augen Brüssels nicht länger zu halten. Denn das Handbuch schlüsselt nicht nur detailliert auf, was unter dauerhaftem und gewöhnlichem Arbeitsort zu verstehen ist. Es fordert auch die Berücksichtigung einer Vielzahl von individuellen Faktoren, die die nationalen Behörden - hierzulande die Jobcenter - bei ihren Entscheidungen einbeziehen sollen: familiäre Verhältnisse und Bindungen, Dauer und Kontinuität des Aufenthaltes im Gastland, Art der Erwerbstätigkeit, Ausübung einer nicht bezahlten Tätigkeit und Wohnsituation. Außerdem soll einbezogen werden, in welchem Land der Betreffende steuerpflichtig ist und warum er überhaupt seinen Lebensmittelpunkt in einen anderen EU-Staat verlegt hat.

Wie deutlich die Meinungsunterschiede zwischen Brüssel und Berlin sind, macht die Tatsache deutlich, dass die Bundesrepublik bisher Sozialleistungen bei arbeitslosen Zuwanderern pauschal ablehnt, während die Kommission darauf besteht, dass jeder Einzelfall geprüft wird. Das aber hat ja nur dann Sinn, wenn man davon ausgeht, dass es durchaus einige Anspruchsberechtigte gibt.

Vor allem die Konservativen in Deutschland und anderen Mitgliedstaaten lehnen diese Öffnung durch die Hintertüre strikt ab. Allerdings hatten schon in den vergangenen Monaten diverse Gerichte EU-Ausländern Hartz IV zugesprochen. Wichtigste Begründung: Die Grundsicherung sei nötig, damit sich der Betreffende auf dem Arbeitsmarkt überhaupt eingliedern könne - eine Argumentation, die auch die Kommission in ihrer umstrittenen Stellungnahme für das derzeit laufende Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof nutzt.

"Das Handbuch fügt sich ein in die laufenden Maßnahmen der Kommission zur Erleichterung der Freizügigkeit der Menschen in der EU", betonte gestern Kommissar Andor und unterstrich damit das wichtige Anliegen Brüssels: Die Freizügigkeit soll ausgebaut und besser organisiert, aber auf keinen Fall zurückgeschnitten werden. Auch wenn man die Notwendigkeit genauer Prüfungen der Einzelfälle durchaus sehe.

Den Einwand, eventuelle zusätzliche Zahlungen würden die deutschen Sozialversicherungen überfordern, wies die Kommission übrigens am Wochenende zurück. Denn für die Grundsicherung, mit der Zuwanderer genügend finanziellen Freiraum zur Arbeitssuche hätten, gebe es EU-Mittel. Diese habe die Bundesrepublik in der zurückliegenden Finanzperiode nur zu 63 Prozent abgerufen.

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