Protestwelle der britischen Wutbürger
London. Das britische Regierungsviertel kommt in diesem Jahr einfach nicht zur Ruhe. Fast schon gehören Protestschilder, Pfeifenklänge und Polizeiabsperrungen zu alltäglichen Bildern. Denn seit die Regierung ihre massiven Sparpläne vorgestellt hat und unbeirrt weiterführt, zieht es die Briten auf die Straße. Erst demonstrierten die Studenten. Im Frühling gab es eine Massendemo für alle
London. Das britische Regierungsviertel kommt in diesem Jahr einfach nicht zur Ruhe. Fast schon gehören Protestschilder, Pfeifenklänge und Polizeiabsperrungen zu alltäglichen Bildern. Denn seit die Regierung ihre massiven Sparpläne vorgestellt hat und unbeirrt weiterführt, zieht es die Briten auf die Straße.Erst demonstrierten die Studenten. Im Frühling gab es eine Massendemo für alle. Gestern gingen nun Lehrer, Zollbeamte, Justizmitarbeiter und weitere Beschäftigte des öffentlichen Dienstes in den Streik und zur Demo. Sie kämpfen für ihre Rente - doch wie für die meisten Bevölkerungsgruppen sieht es auch für sie so aus, als ob nichts zu machen sei. "Das ist das erste Mal, dass ich jemals in Streik getreten bin - und ich tue es schweren Herzens", sagte die Lehrerin Julia Neal dem Sender BBC. "Wir denken, dass es die letzte Möglichkeit ist - wir sind dazu getrieben worden", meint die 55-Jährige. Während es in den vergangenen Wochen oft um Einschnitte im Gesundheitssystem oder bei öffentlichen Einrichtungen ging, stand diesmal ein Thema im Mittelpunkt, dem sich alle westlichen Gesellschaften gegenübersehen: Was passiert mit den Renten in Zeiten, da die Menschen immer älter und die Mittel immer knapper werden?
Konkret sollen die Beschäftigten im öffentlichen Dienst künftig rund 3,2 Prozent mehr Beitrag zur Pensionskasse zusteuern. Außerdem soll das Renteneintrittsalter schrittweise von 60 auf 66 Jahre erhöht - und damit dem im privaten Sektor angepasst - werden. So jedenfalls lauten die Pläne der konservativen Regierung von Premierminister David Cameron. Beschlossen ist noch nichts. Doch mit Blick auf die Finanzlage im Königreich gibt es kaum eine Alternative zum Sparen auf allen Ebenen. Das Land kämpft mit einem Defizit von mehr als zehn Prozent der Wirtschaftsleistung und Schulden von mehr als einer Billion Pfund (rund 1,12 Billionen Euro). Die Ratingagentur Moody's warnte bereits, Großbritannien drohe eine Herabstufung seiner Kreditwürdigkeit, falls die Regierung bei ihrem Kürzungsprogramm einknicke. Die Lehrer aber sehen das Messer an der falschen Stelle angesetzt. Sie sollten für weniger Geld länger arbeiten, heißt es aus den Gewerkschaften. Die Anpassung sei absolut unvermeidbar, schallt es von den Regierungsbänken zurück. Die Banken seien an der Finanzkrise Schuld, es sei deshalb ungerecht, den öffentlichen Sektor zahlen zu lassen, argumentieren die Reformgegner. Alle müssten sparen, und Beamte dürften keine Sonderbehandlung bekommen, lautet die Antwort. In der Bevölkerung ist die Frage strittig. Einerseits gingen bei den Demonstrationen auch Eltern mit, die verstehen können, dass die Lehrer frustriert sind. Insgesamt ist die Unterstützung aber eher verhalten.
Selbst die linksliberale britische Zeitung "The Independent" schrieb gestern, dass die Wut der Betroffenen zwar verständlich sei und die Details der Rentenreform sicher noch nachzujustieren seien. Doch insgesamt müssten sich auch die Mitarbeiter im öffentlichen Dienst an die Lage anpassen: "Die sich ausweitende Renten-Kluft zwischen Beschäftigten im privaten und öffentlichen Sektor und der Neid, die Wut und die gegenseitige Ignoranz, die sie begleiten, kann man nicht einfach wegwünschen." Doch die Proteste auf allen Ebenen dürften bleiben. Die Lehrergewerkschaft NUT kündigte an, der Streik könne sich über Monate hinziehen.
Meinung
Verständliche Reaktion
Von SZ-KorrespondentHendrik Bebber
Dieser Arbeitskampf in Großbritannien ist ein Kampf der volkswirtschaftlichen Kulturen: Kann man sich aus einer Krise heraussparen oder soll man durch risikoreiche Investitionen in die Zukunft - vor allem in Bildung und Infrastruktur - eine bessere Zukunft schaffen? Streiks sind ein allzu verständlicher Protest gegen die Entbehrungen und den gesunkenen Lebensstandard, unter denen viele Briten mittlerweile leiden müssen. Und wer so rigoros denkt und handelt wie die britische Koalitionsregierung, braucht sich nicht über die Erbitterung der betroffenen Menschen zu wundern. Doch Streiks ändern wenig an der harschen Realität, wenn sie nicht zum Dialog und zur Kompromissbereitschaft führen.