Berlin Der ewige Streit zwischen Pragmatikern und Hardlinern

Berlin · 70 Seiten, 300 Anträge und reichlich Diskussionsbedarf: Die Linke berät von heute an über ihr Wahlprogramm. Doch die Flügel sind sich nicht einig.

 Er ist koalitionswillig, sie nicht: Die Spitzenkandidaten der Linkspartei, Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch, sind sich nicht immer einig.

Er ist koalitionswillig, sie nicht: Die Spitzenkandidaten der Linkspartei, Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch, sind sich nicht immer einig.

Foto: dpa/Gregor Fischer

Der Streit entzündet sich schon am Titel: „Die Zukunft, für die wir kämpfen: sozial, gerecht, für alle“ – so ist der mehr als 70 Seiten lange Programmentwurf der Linkspartei überschrieben. Der pragmatische Flügel will das mit dem „Kämpfen“ gestrichen haben. Begründung: Soziale Gerechtigkeit lasse sich über viele Wege erreichen. „Da muss nicht immer Kampf sein.“ Den Ultralinken dagegen kann es gar nicht kämpferisch genug gehen. Sie hätten gern auch noch den Friedenskampf in der Überschrift verankert. Willkommen im Antragsdschungel des linken Bundesparteitages in Hannover.

Für die an diesem Freitagnachmittag beginnenden Beratungen waren ursprünglich mehr als 1200 Änderungsanträge von der Basis eingereicht worden. In einer Marathonsitzung am letzten Wochenende hatte der Parteivorstand dann die Papierflut auf „nur“ noch etwa 300 Anträge eingedämmt. Doch auch damit bleibt den rund 580 Delegierten bis zum Sonntag noch genügend Diskussionsstoff.

Im Mittelpunkt des Wahlprogramms steht einmal mehr das Thema Gerechtigkeit. Ein Mindestlohn von zwölf Euro, die Abschaffung der Leiharbeit und eine Absenkung des Renteneintrittsalters auf 60 Jahre sowie eine Reichensteuer von bis zu 75 Prozent gehören dabei zu den Kernforderungen. Hier herrscht auch weitestgehend Einigkeit. Konflikte sind indes bei der europa- und friedenspolitischen Ausrichtung des Programms zu erwarten. So halten die ganz Linken unter den Linken die Kritik an der EU noch für stark ausbaufähig. Den Reformern geht sie dagegen schon jetzt teilweise zu weit. Ein weiterer brisanter Streitpunkt ist die Haltung der Partei zu internationalen Bundeswehreinsätzen. Im Programmentwurf wird glasklar der Rückzug aller im Ausland stationierten deutschen Soldaten gefordert. Mit dieser Maximalposition wäre die Linke für SPD und Grüne jedoch von vornherein kein Partner. Das hatten Spitzenpolitiker beider Parteien zuletzt mehrfach deutlich gemacht.

Seit den verpatzten Landtagswahlen für die SPD sind die Chancen für eine rot-rot-grüne Wende in Berlin allerdings ohnehin fast auf den Nullpunkt gesunken. Das letzte gemeinsame Schnupper-Treffen von Abgeordneten der drei Parteien fand Ende April statt. Und ein neuer Termin ist nicht in Sicht, auch weil im nunmehr forcierten Wahlkampf jede Partei sich selbst die nächste ist. Da können Koalitionsdebatten eher schaden. In Hannover wird man daran aber trotzdem nicht vorbeikommen. Denn unter den Anträgen finden sich auch solche, die ein Zusammengehen mit „neoliberalen Parteien“ kategorisch ausschließen – und darunter ausdrücklich auch Grüne und SPD summieren. Von den beiden Spitzenkandidaten waren hier zuletzt unterschiedliche Signale zu hören. Während Sahra Wagenknecht meinte, „es sieht so aus“, als ob Rot-Rot-Grün tot sei, gab sich Dietmar Bartsch unbeirrt koalitionsbereit: „Wir wollen Regierungsverantwortung übernehmen.“ Der Politikwissenschaftler Gero Neugebauer sieht die Linke deshalb in einem schwierigen Spagat: „Die Partei muss sich wahrnehmbar von der SPD unterscheiden, aber keine Hürden aufbauen, dass die SPD sagt, mit denen nicht.“ Die genaue Formulierung der Überschrift des linken Wahlprogramms ist dabei am Ende sicher noch das geringste Problem.

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