Pflegeversicherung: Nach der Reform ist vor der Reform

Berlin. Auftakt für die Reform der Reform: Ein von der Bundesregierung beauftragter Expertenbeirat legte gestern nach über zwei jähriger Arbeit seine Vorschläge zur Neuordnung der Pflegeversicherung vor. Danach soll sich die Pflegebedürftigkeit am Grad der Selbständigkeit eines Betroffenen ausrichten und nicht mehr wie bislang am zeitlichen Pflegeaufwand

Berlin. Auftakt für die Reform der Reform: Ein von der Bundesregierung beauftragter Expertenbeirat legte gestern nach über zwei jähriger Arbeit seine Vorschläge zur Neuordnung der Pflegeversicherung vor. Danach soll sich die Pflegebedürftigkeit am Grad der Selbständigkeit eines Betroffenen ausrichten und nicht mehr wie bislang am zeitlichen Pflegeaufwand. Die Kosten könnten um bis zu vier Milliarden Euro steigen. Als die große Koalition im Vorjahr die erste überfällige Reform der 1995 eingeführten Pflegeversicherung beschloss, war allen Beteiligten klar, dass es sich nur um eine Übergangslösung handelt. Zwar brachte sie einige Verbesserungen, aber die Definition der Pflegebedürftigkeit blieb unangetastet. Der Pflegebedürftigkeitsbegriff bildet den Maßstab für die Begutachtungsverfahren des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK), und damit für die Möglichkeit, als Versicherter Leistungen aus der Pflegekasse zu beziehen. Klar ist, dass immer mehr ältere Menschen durch das Raster der jetzigen Bestimmungen fallen. Berücksichtigt wird der Pflegeaufwand, der wegen körperlicher Gebrechen entsteht, aber kaum der Betreuungsaufwand etwa bei Verhaltenstörungen. Benachteiligt sind vor allem Demenzkranke, deren Zahl nach Schätzungen des Bundesgesundheitsministeriums von heute 1,1 Millionen auf 1,7 Millionen im Jahr 2030 zunehmen wird.Frage des Zeitaufwands Die Einstufung des Betroffenen in eine der drei geltenden Pflegestufen ist eine Frage des zeitlichen Pflegeaufwands. In der Stufe I muss der Pflegebedarf mindestens 90 Minuten pro Tag betragen, in der Stufe III jeweils mindestens fünf Stunden. Dieses System will der bereits im November 2006 eingesetzte Expertenbeirat durch fünf "Bedarfgrade" ablösen. Sie sollen den Umfang der noch vorhandenen Selbständigkeit eines Menschen erfassen. Zu den Kriterien gehören kommunikative Fähigkeiten, psychische Problemlagen, die Fähigkeit zur Körperpflege sowie soziale Kontakte. Bei Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) stoßen die Vorschläge der Experten auf große Sympathie. "Sie weisen in die richtige Richtung. Die oft kritisierte Minutenpflege muss der Vergangenheit angehören", sagte sie gestern in Berlin. Auch der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach ist voll des Lobes. "Die Festlegung des Pflegebedarfs in drei Stufen hat sich nicht bewährt. Der neue Vorschlag setzt auf eine sehr viel stärkere Individualisierung der Pflege, und das ist sehr zu begrüßen", sagte Lauterbach der SZ. Die Umsetzung der Idee wirft allerdings noch viele Fragen auf. Der Vorsitzende des Beirats, Jürgen Gohde, legte Wert auf die Feststellung, dass gegenwärtige Bezieher von Pflegeleistungen im neuen System nicht benachteiligt werden dürften. Außerdem verursacht schon die bessere Berücksichtung des Betreuungsaufwands Mehrkosten, die laut Beirat unter dem Strich zwischen 240 Millionen und 3,98 Milliarden Euro liegen könnten. Das wären bis zu 0,4 Beitragssatzpunkte mehr als heute. Seit Mitte 2008 liegt der Satz bei 1,95 Prozent vom Bruttolohn. Kinderlose zahlen 2,2 Prozent.

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