Paradies mit Schwindsucht

Berlin · Während die Bevölkerung in den Metropolen stark wächst, bluten dünn besiedelte Teile Deutschlands wie etwa Sachsen-Anhalt dramatisch aus. Experten fordern daher Konsequenzen für die ländliche Versorgung und Infrastruktur.

In einschlägigen Filmen und Illustrierten wird das Landleben oft als paradiesischer Zustand inszeniert. Doch der massive Bevölkerungsschwund in den ländlichen Regionen erfordert nach Überzeugung von Demografie-Experten ein radikales Umdenken. "Wir müssen uns vom Anspruch der Gleichwertigkeit verabschieden und alternative Modelle finden", sagte der Exekutivdirektor des Potsdamer Instituts für Nachhaltigkeitsstudien, Klaus Töpfer, gestern bei der Vorstellung einer Untersuchung, die in Zusammenarbeit mit dem "Berlin"-Institut für Bevölkerung und Entwicklung erarbeitet wurde.

Die Prognosen sind nicht neu: Während die Bevölkerung in Metropolen wie Berlin und Hamburg bis zum Jahr 2030 um bis zu 15 Prozent wachsen wird, geht sie in ohnehin schon dünn besiedelten Teilen Deutschlands wie etwa Sachsen-Anhalt nochmals um ein Viertel zurück. Die Konsequenzen für die ländliche Versorgung und Infrastruktur würden politisch aber noch viel zu wenig thematisiert, klagte Töpfer. Die zentrale Ursache dafür sehen die Verfasser der Studie ausgerechnet in der grundgesetzlich verbrieften "Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse". Denn damit, so die Autoren, ließen sich Subventionen für bauliche Verschönerungen und neue Straßen auch in entlegenen Regionen begründen, in denen die Bevölkerungszahl abnehme. Jedoch falle der Betriebsaufwand etwa für Strom-, Wärme-, Wasser- und Telefonleitungen unabhängig von der Nutzerzahl an. "Je weniger Menschen in einer Region leben, desto teurer wird die Versorgung", erklärte der Direktor des Berlin-Instituts, Reiner Klingholz.

Die Studie empfiehlt deshalb, eine neuen "Ordnungsrahmen für das Kleinerwerden" zu schaffen. Was scheinbar harmlos klingt, birgt freilich eine Menge politischen Sprengstoff. Schließlich müssten viele unbequeme Fragen beantwortet werden: Lohnt es sich zum Beispiel, in einem Dorf mit stetigem Bevölkerungsschwund noch den Straßenbau zu fördern? Wo ist es sinnvoll, die Entsiedelung aktiv voranzutreiben? Und wo ist es gar geboten, den öffentlichen Nahverkehr aus Kostengründen einzustellen? Nach Ansicht Töpfers dürfen solche Fragen nicht "von oben entschieden werden, sondern vor Ort". Wenn eine Kommune in absehbarer Zeit überhaupt nicht mehr bewohnt sei, dann mache es Sinn, die noch Verbliebenen mit Anreizen zum Umzug zu bewegen. In den erhaltenswerten Ortschaften müssten die Planer jedoch die Versorgungskonzepte anpassen.

Was das konkret bedeuten kann, wird in der Studie ebenfalls thematisiert: Besonders in Ostdeutschland sind Anlagen für Wasser und Abwasser vielerorts überdimensioniert. Um dezentrale Strukturen zu ermöglichen, müssten solche Anlagen zunächst einmal entschuldet werden. Weil der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs für immer weniger Menschen auch unter ökologischen Aspekten keinen Sinn macht, sollten private Mitfahrgelegenheiten besser erschlossen werden. Dazu müsste der Gesetzgeber handeln, denn bislang sind alle Fahrten genehmigungspflichtig, die einem Anbieter mehr als die Betriebskosten einbringen. Berlin-Instituts-Chef Klingholz plädierte zudem für neue Wege bei der Förderpolitik mittels Regionalbudgets. "Damit könnten die örtlichen Verwaltungen selbst festlegen, ob sie lieber ein Dorfzentrum mit Schule haben wollen oder ein Spaßbad", meinte Klingholz.

Sein Fazit: "Wir müssen wohl ein paar heilige Kühe schlachten, angefangen von den Mindestschülerzahlen in Klassen über das Personenbeförderungsgesetz bis zum Anschluss- und Benutzungszwang beim Abwasser." Und das Verfassungsrecht auf Gleichwertigkeit? Auch das gehöre "in letzter Instanz" abgeschafft, so Klingholz.

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