Nur noch 85 Flüchtlinge pro Tag

Brüssel · Die EU lobt den Türkei-Deal als Erfolg: Während im Oktober vor einem Jahr noch 7000 Hilfesuchende pro Tag auf den griechischen Inseln ankamen, sind es jetzt noch etwa 85. Doch das Problem hat sich verlagert.

"Große Fortschritte" - das Urteil der EU-Kommission über das Funktionieren des EU-Türkei-Deals steht angesichts der Situation etwas zwiespältig im Raum. Als der Vizepräsident der Brüsseler Kommission, Frans Timmermans, gestern dann auch noch feststellte, die "Zahl der Personen, die die Ägäis zu überqueren versuchen und dort ums Leben kommen" sei "zurückgegangen", hinterließ die jüngste Bilanz des Abkommens endgültig ein schales Gefühl. Denn inzwischen ertrinken die Flüchtlinge auf einer anderen, neuen Route von Libyen nach Italien. Dabei weisen die Zahlen tatsächlich auf eine positive Wirkung des Türkei-Deals hin: Kamen im Oktober 2015 noch 7000 Hilfesuchende pro Tag über die Türkei auf eine der griechischen Inseln, waren es im September 2016 nur noch durchschnittlich 85. Für die EU-Behörde ein deutliches Signal dafür, dass man das Geschäftsmodell der Schleuser zerstören könne, wenn man eine solche Vereinbarung nur konsequent anwende. EU-Migrationskommissar Dimitros Avramopoulos lobte sogar ausdrücklich Griechenland und Italien, wo inzwischen zu "fast" 100 Prozent Fingerabdrücke erfasst und registriert würden und damit die Voraussetzungen erfüllt worden seien, um - wie von Ankara zugesagt - die Flüchtlinge auch wieder auf türkischen Boden zurückzuführen.

Dass das Zahlenwerk die tatsächliche Lage aber nur beschränkt wiedergibt und wohl eher denen politische Schützenhilfe leisten soll, die vergleichbare Verträge mit weiteren nordafrikanischen Staaten abschließen wollen, belegte ausgerechnet der von Brüssel gelobte hellenische Europaminister Nikos Xydakis in einem Zeitungsinterview: "Wir müssen jeden einzelnen Asylantrag auf individueller Basis bearbeiten. Wir brauchen mehrere hundert Fachbeamte, um das zu leisten. Die haben wir aber nicht." Vor dem EU-Türkei-Abkommen hätten lediglich drei Prozent der Flüchtlinge Asyl beantragt. Inzwischen seien es 99 Prozent. Um diese Flut bewältigen zu können, hatten die EU-Mitgliedstaaten versprochen, 400 Experten in die Hotspots auf den griechischen Inseln zu schicken. "Bis heute sind aber nur 26 angekommen." Athen fühlt sich alleingelassen - mit rund 14 000 Migranten auf seinen Eilanden.

Am Montag brachte ein Schiff der EU-Grenzschutzagentur Frontex 70 Flüchtlinge von Lesbos in die türkische Hafenstadt Dikili - es war die erste große Rückführung seit Inkrafttreten des Deals mit Ankara Ende März. Insgesamt waren es bisher 578 Hilfesuchende, die Griechenland wieder Richtung Bosporus verlassen mussten. Auch die sogenannte Umverteilung von Migranten aus griechischen und italienischen Auffangzentren hält sich in Grenzen. 4455 Personen wurden aus Griechenland an andere EU-Staaten verteilt - darunter 192 nach Deutschland.

Meinung:

Die Flucht geht weiter

Von SZ-Korrespondent Detlef Drewes

Es fällt schwer, die Situation auf den Fluchtrouten über das Mittelmeer als Erfolg zu bezeichnen. Dabei hat die Brüsseler Kommission ja recht: Die Zuwanderungswelle über die Türkei ist abgeebbt. Das stimmt zwar, soll aber zugleich als Argument dafür dienen, nun auch das "Loch" in der europäischen Außengrenze Richtung Italien endlich zu stopfen. Denn dort ist die Lage kaum weniger fatal als noch vor einigen Monaten in der Ägäis. Die gesamte Konstruktion aus Rückführung, legaler Einreise in die EU, Verteilung und Integration funktioniert keineswegs. Wer die Situation vor Ort in seine Bilanz einbezieht, muss enttäuscht und wütend über das Versagen aller Beteiligten sein.

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